Salzburger Nachrichten

Stirbt die Freiheit für die Freiheit?

Der ukrainisch­e Präsident nutzt das Kriegsrech­t, um Parteien und Medien auf Linie zu bringen. Kritiker sprechen von „Gleichscha­ltung“.

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Wolodymyr Selenskyj sagt es wieder und wieder. Es gehe im russischen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine um mehr als nur um sein Land. „Wir kämpfen für Freiheit und Demokratie.“Der ukrainisch­e Präsident weiß dabei die westliche Staatenwel­t geschlosse­n hinter sich. Aus dem Blick gerät dabei allerdings die Frage, wie es in Kriegszeit­en eigentlich um die Demokratie in der Ukraine bestellt ist. Wie frei kann ein Land noch sein, wenn die nackte Existenz auf dem Spiel steht?

Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Parteiverb­ot. Es ist die vierte Kriegswoch­e, als Selenskyj gleich elf politische­n Gruppierun­gen auf einen Streich die weitere Arbeit untersagt. Die Parteien, argumentie­rt Selenskyj, hätten allesamt enge Verbindung­en zum Kreml und damit zum russischen Aggressor. Das Verbot trifft Splittergr­uppen wie

„Naschi“(Die Unseren), die nicht einmal im Parlament vertreten sind. Der Name von Naschi-Chef Jewgeni Murajew findet sich aber auf einer Liste westlicher Geheimdien­ste. Demnach gilt der 45-Jährige als möglicher Anführer einer vom Kreml angestrebt­en Marionette­nregierung in Kiew.

Noch problemati­scher ist aus Selenskyjs Sicht die „Opposition­splattform – Für das Leben“, die in der Rada die zweitgrößt­e Fraktion stellt. Zweifel an der prorussisc­hen Ausrichtun­g der Partei gibt es nicht. Ihre Anführer sind die Oligarchen Jurij Boiko und Wiktor Medwedtsch­uk, die beste Beziehunge­n nach Moskau pflegen. Letzterer ist mit dem russischen Präsidente­n persönlich befreundet. Wegen Verbindung­en zu den Separatist­en im Donbass verbot Selenskyj schon Anfang 2021 drei prorussisc­he TVSender aus Medwedtsch­uks Medienimpe­rium und stellte den Oligarchen später unter Hausarrest. Erst als Putin am 24. Februar die Invasion befahl, entkam Medwedtsch­uk.

Angesichts dieser Vorgeschic­hte erscheint es fast zwingend, dass Selenskyj die Pro-Putin-Partei nun für die Dauer des Kriegs verbietet. Das Recht dazu gibt ihm die Verfassung. Beziehungs­weise das Parlament, das verfassung­sgemäß nach Beginn der russischen Invasion das Kriegsrech­t verhängt hat.

Seither kann Selenskyj nahezu ohne parlamenta­rische Kontrolle mit Dekreten durchregie­ren. Zunächst für 30 Tage, aber eine Verlängeru­ng um weitere 30 Tage hat die Oberste Rada bereits beschlosse­n. Im Parlament kann sich der Präsident auf eine absolute Mehrheit stützen. Verfassung­srechtlich ist das alles einwandfre­i. Aber was bedeutet es in der politische­n Praxis – mitten im Krieg?

Der Ton jedenfalls, den Selenskyj innenpolit­isch anschlägt, wird immer rauer. „Die Tätigkeit von Parteien und deren Politikern, die auf Spaltung und Kollaborat­ion mit Russland abzielen, wird eine harte Antwort erhalten“, sagt er. Und: „Die Ukraine wird niemandem vergeben, nicht vergessen und jeden Verräter zur Verantwort­ung ziehen.“Für kritischen Journalism­us sind das keine guten Zeiten. Per Präsidiale­rlass will Selenskyj alle nationalen Fernsehsen­der unter staatliche­m Dach vereinen. Erklärtes Ziel: Es sollen keine Meldungen verbreitet werden, die den ukrainisch­en Interessen im Krieg entgegenst­ehen oder die Verteidigu­ngsfähigke­it aushöhlen könnten. Einige Kritiker sprechen bereits von „Gleichscha­ltung“.

Dabei trägt die Berichters­tattung über den Krieg in der Ukraine auch ohne staatliche Eingriffe Züge von Propaganda. Bezeichnun­gen wie „der Feind“oder „die Besatzer“für die russische Armee sind gängig. Ohne journalist­ische Bedenken berichten viele Medien auch über Zurschaust­ellungen von Kriegsgefa­ngenen, die nach dem humanitäre­n Völkerrech­t verboten sind.

Immer wieder organisier­t die ukrainisch­e Armee Pressekonf­erenzen, bei denen gefangene russische Soldaten auftreten und den Gegner loben. Angeblich freiwillig sagen sie dort Sätze wie diese: „Die Ukrainer sind ein starkes Volk. Sie zerlegen unsere Konvois zu Kleinholz.“

Einige fundamenta­le demokratis­che Prinzipien, so wirkt es, stören Selenskyj beim Kampf um die Demokratie. Immerhin aber ist der Präsident bei seinen Landsleute­n im Wort: Über ein Ende des Kriegs und eine politische Lösung mit Russland will er sie abstimmen lassen. Per Referendum.

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