„Die Menschen sind da. Punkt“
Gesellschaften verändern sich durch die Aufnahme von vielen Flüchtlingen. Welche Herausforderungen gehen im Ukraine-Krieg damit einher? Und welche Chancen?
Ungarn-Krise 1956. Mehr als 180.000 Menschen flüchteten nach Österreich, für viele war Österreich aber nur eine Zwischenstation. Bosnien-Krieg Anfang bis Mitte der 1990er-Jahre. Mehr als 90.000 Menschen kamen nach Österreich – der Großteil davon ist geblieben. Migrationskrise 2015. Mehr als eine Million Menschen aus dem Nahen Osten fahren durch Österreich in Richtung Deutschland, etwa 90.000 sind geblieben.
Man muss nicht weit in der Geschichte zurückblicken, um zu erkennen: Flucht und Migration sind seit jeher Teil unserer Geschichte. „Viele Menschen, die in Österreich leben, waren auch einst Geflüchtete oder sind migriert – was man heute oft gar nicht mehr so wahrnimmt, weil sich vieles im Laufe der Zeit normalisiert hat“, sagt Erol Yildiz, Soziologe von der Universität Innsbruck, der auf Migration und Bildung spezialisiert ist. Und: „Man hat immer einen Umgang gefunden. Teils einen sehr erfolgreichen“, sagt er und verweist auf die Beispiele der Flüchtlingskrisen nach Ungarn
bzw. Jugoslawien-Krieg: „Da hat man das sehr gut bewältigt.“
Wenn man also angesichts der ukrainischen Flüchtlingsströme in Richtung Westen das Ganze historisch betrachtet und fragt: Was hat man daraus gelernt? Welche Konflikte gab es? Welche Dinge sind gut gelaufen? „Dann findet man immer eine Lösung und kann gewisse Erfahrungen durchaus reaktivieren. Das tut man ja auch“, sagt er.
Dass Flüchtlinge aus der Ukraine etwa problemlos in jene Länder fahren dürfen, wo sie bereits Verwandte und Bekannte haben, sei sinnvoll und pragmatisch. „Denn Verwandte und Bekannte übernehmen da schon sehr viel an Organisation. Das ist hochintegrativ“, betont Yildiz. Viele Probleme und Konflikte würden damit schon im Vorfeld abgeschwächt und abgefangen.
„Das ist die beste Lösung.“– Die aktuelle Flüchtlingskrise sei am ehesten mit den Auswirkungen nach dem Bosnien-Krieg vergleichbar. „Wobei damals schon auch sehr große Skepsis geherrscht hat“, erinnert Yildiz. Davon sei heute keine Spur. Ein Grund: Es kommen vor allem Frauen und Kinder – die ukrainischen Männer müssen in der Heimat bleiben. Das löse – zusätzlich zur Nähe der ukrainischen Grenze – in einer Gesellschaft was anderes aus, als wenn – wie etwa 2015 – überwiegend junge Männer aus Syrien oder Afghanistan kommen. Wobei die Aufnahmebereitschaft auch da groß gewesen sei und viele unterdessen arbeiten würden, betont Yildiz.
Laut Zahlen des Innenministeriums sind bisher rund 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer nach Österreich eingereist. Etwa 80 Prozent davon haben sich wenig später schon in andere Länder aufgemacht. Bisher wurden 24.000 Vertriebene in Österreich registriert, die vorerst bleiben wollen.
Was passiert, wenn die erste Euphorie der Hilfsbereitschaft verflogen ist? Schwer zu sagen, sagt Yildiz. Denn weder wisse man, wie viele Flüchtlinge am Ende tatsächlich in Österreich bleiben – mehrere Zehntausend oder Hunderttausende? –, noch, ob die Männer früher oder später nicht auch nachkämen.
Dann stelle sich die Frage: Gibt es genug Wohnraum oder Arbeit für alle? Wobei derzeit ja gerade in der Pflege, in der Gastronomie, in der Landwirtschaft händeringend Arbeitskräfte gesucht würden, sagt Yildiz. Viele Betriebe würden sagen: „Ja, wir nehmen euch!“Insofern berge die aktuelle Flüchtlingskrise für die österreichische Gesellschaft auch eine Chance. Zentral sei dabei auch, die Qualifikationen der Gekommenen rasch und unbürokratisch anzuerkennen. Aber früher oder später werde auch bei ukrainischen Flüchtlingen die Frage diskutiert werden: „Wer bleibt und wer bleibt wie lange?“
Flucht und Migration verändern Gesellschaften. Laut Yildiz ist der beste Zugang immer der lösungsorientierte: „Denn die Menschen sind ja da. Punkt. Man muss daher einfach schauen, wie man sie so gut wie möglich einbindet.“Wobei das Geduld erfordert – von allen Seiten.
„Wer bleibt? Und wer bleibt wie lange?“
Erol Yildiz, Universität Innsbruck