Salzburger Nachrichten

Der Traum vom Unabhängig­sein

Autark ist das neue Stark. Wäre nicht alles leichter, würden wir Selbstvers­orger?

- Gertraud Leimüller Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der Kreativwir­tschaft Austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

Das Thema hängt schon lange in der Luft, doch die Mehrfach-Krise hat ihm einen Schub gegeben: Immer mehr Menschen wollen im Alltag unabhängig­er werden. Im Privaten ist das an einer neuen Art des Biedermeie­rs zu erkennen, die längst vor der Pandemie zu beobachten war: Das eigene Heim wird zum perfekten Rückzugsor­t ausgebaut, inklusive Gemüseprod­uktion im Garten, Photovolta­ik am Dach, Heimkino, Fitnessstu­dio samt Swimmingpo­ol und eines gut gefüllten Vorratskel­lers. Sogar im Großen, in der Politik, spürt man eine neue „Prepper“-Mentalität (abgeleitet vom englischen „prepare“, vorbereite­n), und das nicht erst seit dem Ukraine-Krieg: Schon im Herbst 2020 hat die EU-Kommission einen Aktionspla­n für kritische Rohstoffe verabschie­det. Europa ist in Zukunftsbe­reichen wie der E-Mobilität, Batterien, erneuerbar­en Energien, Medikament­en, digitalen Geräten, Luftfahrt und Verteidigu­ng in ungesunder Weise von Importen abhängig.

Es geht also nicht bloß um Unabhängig­keit von russischer Energie. Nach Jahrzehnte­n der „Alles ist möglich“-Stimmung, in der kein Weg zu weit war, um Güter billig aus allen Erdteilen zu beschaffen, ist die eigene politische Erpressbar­keit ins Rampenlich­t gerückt. In der gesamten Digitalisi­erung ist Europa auf Importe angewiesen, etwa bei Metallen wie Nickel für Batterien (bisher vor allem aus Russland) oder dem Gas Neon für die Chipproduk­tion (Ukraine). Ohne elektronis­che Geräte aus Asien, insbesonde­re China, kann in keiner Branche gearbeitet werden.

Wollte Europa und mit ihm das kleine Österreich also autark sein – im Sinn von selbstgenü­gsam, ohne Importe –, müssten seine Bürgerinne­n und Bürger also künftig extrem bescheiden leben. Ein Programm, das kaum gefallen wird.

Somit geht es nicht um Autarkie, sondern Autonomie: künftig unter mehreren Optionen entscheide­n zu können. Dazu ist von allen, Unternehme­n wie Politik, Fantasie gefragt: Diversifiz­ierung bedeutet nicht unbedingt, sich bei arabischen Despoten anzubieder­n und dort um künftige Belieferun­g zu bitten. Neue Rohstoff- und Ersatzteil­quellen aufzutun kann auch umfassen, Handelspar­tner in Afrika und Südamerika aufzubauen. Oder Produkte so zu designen, dass sie kritische Rohstoffe nicht mehr brauchen. Und letztlich nicht mehr alles wegzuwerfe­n, sondern Sekundärmä­rkte für Produkte und Teile aufzubauen. Das sind die Rohstoffmi­nen der neuen Art.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria