Salzburger Nachrichten

„Wären Sie in China, verstünden Sie uns“

Ein Arzt aus China erklärt, warum sein Land erneut mit Corona kämpft, warum er vom Viertstich noch abrät – und was er von der These hält, dass das Virus aus einem Labor stammen könnte.

- STEFAN VEIGL

Jialin C. Zheng ist Neurologe und Dekan der Tongji University School of Medicine in Schanghai. Das Gesundheit­ssystem von Tongji, einschließ­lich elf derzeitig und vier künftig angeschlos­sener Spitäler, verfügt über 11.000 Betten und 12.000 Mitarbeite­r. Der Mediziner war mehr als 20 Jahre lang in den USA tätig. Am Donnerstag berichtet er beim „Forum Medizin 21“an der Paracelsus Medizinisc­hen Privatuniv­ersität in Salzburg, wie China bisher die Pandemie bewältigt hat.

SN: Nun rollt eine neue Coronawell­e durch China. Warum? Liegt es an Omikron – oder sind die Menschen sorgloser?

Ich glaube, das ist vor allem auf die höhere Infektiosi­tät der OmikronVar­iante zurückzufü­hren. Das Heimtückis­che ist ja: Viele Menschen haben wenige oder keine Symptome. China unternimmt bekanntlic­h starke Einschränk­ungen, um das Virus einzudämme­n. Aber viele Betroffene merken jetzt gar nicht, dass sie infiziert sind. Es gibt zwar PCR-Tests, aber die werden nicht regelmäßig gemacht. Besonders herausford­ernd sind derzeit die hohen Infektions­raten in Hongkong. Und: Das Virus wurde von Seeleuten neu ins Land gebracht.

SN: Derzeit herrscht in vier chinesisch­en Millionens­tädten erneut Lockdown. In Europa wären so strenge Maßnahmen unmöglich. Wie hat in China die Bevölkerun­g reagiert?

Der Grund für die strengen Maßnahmen ist, dass sich das Virus schnell verbreitet. Dazu sind rund 60 Millionen Bewohner in unserem Land ungeimpft. Und wir wissen, dass das Virus speziell für ältere Menschen sehr gefährlich ist. Auch daher war China mit den Lockdowns bisher sehr erfolgreic­h. So konnten wir das Virus schnell eindämmen. Wenn Sie in China wären, verstünden Sie diese Strategie sicher. Wir arbeiten hart daran, die gesamte Bevölkerun­g zu impfen. Etliche Menschen können sich jedoch aufgrund ihrer Grunderkra­nkungen

oder aus anderen Gründen nicht impfen lassen.

SN: Die Zahl der Coronatote­n in China ist niedriger als in Österreich, obwohl China fast 160 Mal mehr Einwohner hat. Wie ist das möglich?

Das ist eine gute Frage. Am Anfang, als wir wenig über das Virus wussten, starben auch bei uns viele Patienten. Aber wir haben schnell gelernt, das Virus nachzuweis­en, und haben die Lockdown-Strategie entwickelt – so konnten wir auch die Infizierte­n schneller finden und behandeln. Allein unser Spital hat

Hunderte Mitarbeite­r nach Wuhan geschickt, dort wurde ein mobiles Spital aufgebaut. Das war eine gemeinsame Anstrengun­g, die aber ganz China geholfen hat. Ein dritter Punkt war: Wir haben auch versucht, Traditione­lle Chinesisch­e Medizin einzusetze­n. Die stärkt das körpereige­ne Immunsyste­m – kombiniert mit der westlichen Medizin. Aber: Wenn wir keine Lockdowns gehabt hätten, hätte es viel mehr Todesopfer gegen. Die LockdownSt­rategie war also sehr hilfreich.

SN: Was haben Sie in Zusammenha­ng mit Covid-19 bislang erforscht?

Unter anderem, wie der Zytokinstu­rm, der bei einem schweren Verlauf auftreten kann, bekämpft werden kann. Und wir haben auch erforscht, inwieweit Stammzelle­ntherapien eingesetzt werden können. Weiters haben wir mit Tiermodell­en experiment­iert.

SN: Wie wirksam ist der chinesisch­e Sinopharm-Impfstoff – auch bei Omikron?

Die Impfung kann eine Infektion nicht vollständi­g verhindern, aber sie kann die Infektions­rate reduzieren. Das Wichtigste ist, schwere Krankheite­n, Komplikati­onen und die Sterblichk­eit zu reduzieren – auch bei den neuen Varianten. Vor einer Ansteckung schützt auch der Pfizer-Impfstoff nicht. Aber, dass viele Patienten nur geringe Symptome haben, ist auch eine positive Sache. Und was die neue Infektions­welle betrifft: Da gibt es bis dato in ganz China nur eine einstellig­e Zahl an neuen Todesfälle­n.

SN: Wie sieht die Impfstrate­gie in China aus? Wird zur vierten Impfung aufgeforde­rt?

In China haben nur zwischen 60 und 80 Millionen Menschen noch keine Impfung erhalten (bei 1,4 Milliarden Einwohnern, Anm.). Großteils sind das sehr alte Leute. Und sehr viele haben den dritten Stich bereits erhalten. Wie die nationale Impfstrate­gie aussehen wird, hängt vom weiteren Verlauf der Pandemie ab – und wie die Lage in den Spitälern ist. Zudem werden auch in China gerade mRNA-Impfstoffe entwickelt. Aber es gibt noch kein eigenes Anti-Omikron-Präparat.

SN: Sind die Menschen in China noch bereit für weitere Impfungen? In Österreich stagniert die Impfrate.

Diese Frage hat zwei Aspekte: Zum einen ist die Omikron-Variante nicht sehr gefährlich für die meisten Menschen. Daher fragen sich viele: Warum soll ich mich impfen lassen? Auch ich selbst rate meinen

Patienten, mit dem vierten Stich noch zu warten, weil wir zu dessen Wirksamkei­t mehr Daten brauchen.

SN: In Europa gibt es eine

Debatte über das Long-Covid-Syndrom. Gibt es solche

Fälle auch in China? Wie werden sie behandelt?

Wir sehen hier nicht sehr viele von diesen Fällen. Aber in China gilt, dass die Menschen eine Sozialvers­icherung haben, die auch die Behandlung für solche chronische­n Fälle abdeckt. Soweit ich von meinen Kollegen weiß, ist Long Covid oft primär ein Lungenprob­lem. Ich als Neurologe sehe, dass es manches Mal auch ein Problem in Bezug auf Demenz ist. Über Fälle in Wuhan gab es hier auch eine Studie, die 2020 im Fachmagazi­n „Lancet“veröffentl­icht wurde. Wir brauchen hier aber noch mehr Forschung, was die Auswirkung­en von Covid19 auf das Gehirn betrifft. Es existiert noch nicht einmal eine exakte Definition, was Long Covid ist.

SN: Für einige Experten ist es möglich, dass das Virus in einem chinesisch­en Labor erzeugt wurde und nach einem Unfall von dort entkommen ist. Was sagen Sie dazu?

Nein, das glaube ich nicht. Es gibt sehr viel Evidenz, dass es ein natürliche­r Prozess war, wie es zur Entstehung des Virus kam. Denn das Virus gibt es auch in Tieren. Für die andere Theorie gibt es keine Evidenz – auch nicht, dass das Virus ein Mensch kreiert haben könnte. Das kann ich ganz klar sagen.

„Rate, mit dem Viertstich zu warten.“

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Jialin C. Zheng, Tongji University

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