Ärzte im Fernsehen: Realitätsflucht in hoher Dosis
Spitalsserien sind nach wie vor sehr beliebt. Wer sie ausgiebig konsumiert, hat mehr Angst vor Operationen.
SALZBURG. Eine kaputte Klimaanlage im Spital, eine gelungene Gebärmuttertransplantation, ein Todesfall und eine geplante Nierentransplantation: volles Programm in der neuen „Grey’s Anatomy“-Folge „Hitzewelle“(Montag, ORF 1, 20.15 Uhr). Ellen Pompeo alias Meredith Grey ist wieder zurück im Grey Sloan Memorial – die nunmehr 18. Staffel der US-Krankenhausserie bietet eine emotionale Hochschaubahn aus dem Alltag des Ärzteteams in Seattle. Leben und Sterben im Spital und das alles in 41 Serienminuten: Der Erfolg des 2005 gestarteten, Emmy- und GoldenGlobe-gekrönten TV- und Streaminghits steht symptomatisch für das (offenbar) immerwährende Faszinosum Spitalsserie. Die „Götter in Weiß“bieten Eskapismus – in hoher Dosierung.
Ihr Tun berührt, sie kämpfen engagiert bis heroisch gegen Krankheit und Tod, sind aber freilich auch nur Menschen wie du und ich. Diese Wechselwirkung aus elementaren Handlungen, einer vom Laien ebenso bewunderten wie mit Angst aufgeladenen medizinischen Praxis sowie einem vom Publikum gut nachvollziehbaren Menscheln auf den Krankenhausgängen ist der Stoff, der süchtig machen kann. Die Liste der einschlägigen Serien ist unglaublich lang, reicht von „alphateam – Die Lebensretter im OP“bis zu „Zeg’ns Aaa“, einer 14 Jahre lang ausgestrahlten niederländischen Serie im Zahnarztmilieu. Selbst Rankings gibt es zahlreiche, jenes der Plattform popkultur.de führt „Dr. House“vor „Grey’s Anatomy“, „Scrubs – Die Anfänger“, „Emergency Room – Die Notaufnahme“und „The Good Doctor“an. Ob die Fans da zustimmen? „Emergency Room“sollte für George Clooney, der den Arzt Doug Ross mimte, den internationalen Durchbruch bedeuten, wohl auch deshalb, weil die von Drehbuchautor (und Arzt) Michael Crichton geschriebene Serie großen Wert auf Glaubwürdigkeit legte. Was wiederum nicht unbedingt auf „Die Schwarzwaldklinik“zutraf. Das auf die tschechische Pionierserie „Das Krankenhaus am Rande der Stadt“Ende der 1970er-Jahre aufbauende Konzept machte Klausjürgen Wussow alias Prof. Klaus Brinkmann zum Serienstar – bis zu 28 Millionen Menschen saßen bei dem seichten, von Medizinern als wenig authentisch kritisierten Geschehen allein in Deutschland vor den Bildschirmen.
Kammerflimmern auf der Intensivstation, Anbandeln im Ärztezimmer: Spitalsserien mit ihren großen Emotionen bieten die Chance auf ein (gefahrfreies) Als-ob-Leben. Der voyeuristische Blick in die Schicksale anderer befriedigt den Wunsch nach Aufwühlung und Katharsis. „Für die Rezipienten ist der Einblick in persönlich-intime Situationen attraktiv“, sagt Kai Witzel, deutscher Chirurg und Kommunikationswissenschafter,
im SN-Interview. Witzel hat bereits 2008 den Einfluss von Arztserien auf die Erwartungen von Patienten untersucht. Fazit: „Wer oft Arztserien schaut, der schätzt sie als realistischer ein und hat dementsprechend mehr Angst vor Operationen.“Und: Die heile TV-Bilderwelt könne zu Enttäuschungen über den realen Krankenhausbetrieb führen. Obwohl die Serien meist dem fiktionalen Spektrum zuzuordnen sind, seien sie – sagt der Experte – oft erstaunlich gut recherchiert. Und welchen Einfluss hat Corona auf die Rezeption von Spitalsserien? Die Angstsituation
und die Verunsicherung führten zu Polarisierungen und dem Wunsch nach einfachen Lösungen, meint Witzel: „Hier bieten sich die Arztserien an, da Ärzte die Rolle des göttlichen Heilsbringers übernehmen. Interessanterweise wird in den meisten Serien die Pandemiesituation nicht thematisiert.“
Der Höhepunkt der TV-ÄrzteSchwemme war um das Jahr 2000, seit geraumer Zeit nimmt das Genre wieder Schwung auf. Beispiele: „The Good Doctor“, „New Amsterdam“oder „In aller Freundschaft – Die jungen Ärzte“. Vom quotenstarken Evergreen „Der Bergdoktor“gar nicht zu reden. Auch ein kriselndes Gesundheitssystem schadet dem Mythos vom selbstlosen Heiler nicht. Denn: Sentiment sells.