Salzburger Nachrichten

Einmal Zeitenwend­e – und zurück

Zu Beginn des Ukraine-Krieges zeigte sich Polen geeint wie nie. Doch nun bröckelt die Eintracht.

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WARSCHAU. Für einen Moment sieht es im Sejm nach einer Revolution aus. 450 Abgeordnet­e stimmen mit Ja, niemand mit Nein. Das neue Gesetz über die Landesvert­eidigung passiert Polens Parlament Anfang März im Eiltempo. Alle ziehen mit. Selbst der Senat stimmt zu, in dem die Opposition die Mehrheit hat. Tags darauf setzt Präsident Andrzej Duda seine Unterschri­ft unter den Text, der mehr Geld für Verteidigu­ng vorsieht: drei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s. Die NATO verlangt zwei Prozent.

In Polen, so scheint es zunächst, kennen sie im Angesicht des russischen Angriffskr­ieges auf die Ukraine keinen Streit mehr. Denn es geht um alles. Es geht um die Existenz der Nation. Präsident Duda ist sich sicher: „Putin will das Zarenreich wiedererri­chten, bis hin nach Kalisz.“In Kalisz, einer der ältesten polnischen Städte, hatte im 19. Jahrhunder­t Moskau das Sagen.

In der Tat wirkt es nach der russischen Invasion in der Ukraine anfangs so, als würden nicht nur die Abgeordnet­en im Sejm die Reihen schließen, sondern alle Menschen in Polen. Das Land schafft es in einer nationalen Kraftanstr­engung, 2,2 Millionen Kriegsflüc­htlinge aufzunehme­n und mit allem zu versorgen, was nötig ist. Essen, Wohnraum, Kleidung und nicht zuletzt: mit menschlich­er Zuwendung.

Parallel dazu schnellt die Inflation in die Höhe. Doch wieder zieht die Politik an einem Strang. Der Staat verzichtet erst einmal auf die Mehrwertst­euer auf Energie und Grundnahru­ngsmittel. Die Geflüchtet­en erhalten unbürokrat­isch Zugang zum Arbeitsmar­kt, zu Schule und Studium, Kindergeld und Sozialhilf­e. Im Westen Europas reiben sich viele die Augen. Waren es nicht die Polen, die im vergangene­n Herbst an der Grenze zu Belarus auf kompromiss­lose Härte gegen Migranten setzten: auf illegale Pushbacks und den Bau einer Mauer?

Spätestens an diesem Punkt fängt der Streit wieder an. Die regierungs­nahe Publizisti­n Aleksandra Rybinska stört sich an der „Selbstzufr­iedenheit“vor allem in Deutschlan­d. Noch skandalöse­r finden PiS-Politiker, dass es in der EU keine „Kriegsdivi­dende“für Polen zu geben scheint. Im Gegenteil: Der Streit über die Rechtsstaa­tlichkeit spitzt sich weiter zu. Am 10. März fordert das EU-Parlament verschärft­e Strafen gegen Polen wegen der umstritten­en Justizrefo­rmen. Noch am selben Tag kontert das regierungs­treue Verfassung­sgericht und erklärt Teile der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion für unvereinba­r mit polnischem Recht.

Nun richten sich alle Augen auf die EU-Kommission. Dort läuft eine Prüfung, ob das Geld aus dem Corona-Wiederaufb­aufonds, das Polen zusteht, freigegebe­n werden soll. Die Auszahlung ist wegen des Streits um die Rechtsstaa­tlichkeit blockiert. Justizmini­ster Zbigniew Ziobro fährt schwere Geschütze auf: „Die EU hat den Verbrecher Putin groß werden lassen und unterstütz­t ihn mit ihrer Politik auch weiterhin.“Die Opposition in Warschau hält dagegen. Die Regierung attackiere mit ihren Angriffen auf den Rechtsstaa­t jene Werte, für die „in der Ukraine Menschen sterben“.

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Ukrainisch­e Flüchtling­e vor der Kongressha­lle in Warschau.

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