NATO setzt auf Abschreckung
Putins Angriff auf die Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa verändert – und zwar langfristig, wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt: „Es ist eine neue Realität. Es ist ein neues Normal.“Dafür will sich das Bündnis rüsten.
WIEN, BRÜSSEL. Nach und nach trafen die politischen Spitzen der NATO-Staaten Donnerstagfrüh im Hauptquartier des Bündnisses in Brüssel ein. Komplett machte die Runde ein Gast, der sich wie zuletzt häufig per Video zuschaltete: Wolodymyr Selenskyj. Der ukrainische Präsident suchte um weitere Hilfe an. Die NATO-Staatschefs suchten einen Fahrplan durch die Sicherheitskrise. Ein Umriss der Ergebnisse des Treffens.
Aufrüsten
Kurzfristig wird die NATO die Truppen an ihrer Ostflanke weiter verstärken. 40.000 Soldaten sind bereits in der Region, darunter vier sogenannte Battlegroups, die in den baltischen Staaten und in Polen dauerhaft stationiert sind. Vier weitere solche Trupps sollen künftig in Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien präsent sein, beschloss der Gipfel am Donnerstag. Es gebe damit acht multinationale Battlegroups „vom Baltischen Meer bis zum Schwarzen Meer“, betonte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, wie dicht die NATO an ihrer Ostgrenze ihren Schutzschild aufspannen will.
Das sei aber nur ein erster Schritt, kündigte Stoltenberg an. Das Bündnis müsse an seiner langfristigen Abschreckung gegenüber Russland arbeiten. Der durch den russischen Angriffskrieg neuen Sicherheitsumgebung werde die NATO mit mehr Truppen am Boden, mehr Flugzeugen in der Luft und mehr Abwehrsystemen begegnen. „Wir müssen mehr in die Verteidigung investieren“, mahnte Stoltenberg. Sicherheit gebe es nicht umsonst. Konkrete Pläne sollen bis zum NATO-Gipfel im Juni in Madrid ausgearbeitet werden.
Unterstützen
Aufrüstung ist auch das große Thema, wenn es um schnelle Hilfe für die Ukraine geht. Präsident Selenskyj meldete sich mit konkreten Forderungen zu Wort. Darunter mindestens 200 Panzer, das sei ein Prozent von dem, worüber die NATO verfüge. In ähnlicher Größenordnung bewegen sich die Anfragen zu Flugzeugen und Abwehrraketen.
Die Alliierten würden die Ukraine weiterhin unterstützen, damit sie sich selbst verteidigen könne, sagte Stoltenberg nach dem Gipfeltreffen. In welchem Ausmaß, ließ er offen. Es wäre aus operativen Gründen nicht weise, in Details zu gehen.
Am Rande des Treffens merkte der NATO-Generalsekretär an, wie groß die Unterstützung für die Ukraine seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 gewesen sei. Die ukrainische Armee sei heute „besser ausgerüstet, ausgebildet und befehligt“als damals, sagte Stoltenberg. Zusätzliche Unterstützung soll es nun abseits von Waffenlieferungen bei der Cybersicherheit und für den „Schutz gegen Gefahren von chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Waffen geben“. Darunter fielen auch Medikamente oder Trainings für Dekontaminierung.
Die Forderung der Ukraine nach der Errichtung einer Flugverbotszone lehnt die NATO weiter ab.
Eingreifen
Eine Flugverbotszone zu errichten hieße, militärisch in den Konflikt einzusteigen. „Um eine Flugverbotszone zu verhängen, müssen wir die russischen Luftabwehrsysteme in Russland, in Belarus und in der Ukraine massiv angreifen und auch bereit sein, russische Flugzeuge abzuschießen“, sagte Stoltenberg. „Das tun wir nicht, weil wir die Verantwortung dafür tragen, dass dieser Konflikt nicht über die Ukraine hinausgetragen wird“, sagte er.
Auch die polnische Idee einer Friedenstruppe für die Ukraine ist eine Form des militärischen Eingreifens, die derzeit in der NATO nicht mehrheitsfähig ist. Wie die Debatte darüber verlief, dazu äußerte sich Stoltenberg nicht.
Der einzige Grund, weshalb die NATO direkt militärisch eingreifen würde, ist ein Angriff auf eines ihrer Mitglieder – der Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrags. Riskant ist in diesem Zusammenhang nicht nur ein direkter Militärschlag auf ein NATO-Land, sondern auch ein Angriff mit Chemiewaffen auf ukrainischem Boden. Die Kampfstoffe, warnte Stoltenberg, könnten sich dann auch auf NATO-Territorium ausbreiten. Wie das Bündnis konkret darauf reagieren würde, ließ der norwegische Bündnischef am Donnerstag offen.