Salzburger Nachrichten

„Es wird nicht fair sein“

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DORINA PASCHER

Es ist die größte Fluchtbewe­gung seit dem Zweiten Weltkrieg: Innerhalb eines Monats sind 3,5 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Weitere 6,5 Millionen sind innerhalb des Landes geflüchtet. Bereits jetzt kommen Städte wie Warschau, die 300.000 Geflüchtet­e aufgenomme­n hat, an ihre Grenzen. Was also tun? Migrations­forscher Gerald Knaus erklärt, warum ein fester EU-Verteilung­sschlüssel keine Lösung ist.

SN: Herr Knaus, nur wenige

Tage nach Kriegsbegi­nn sagten Sie in einem Interview, dass Europa sich auf zehn Millionen Flüchtling­e aus der Ukraine einstellen muss. Worauf stützen Sie diese Zahl?

Gerald Knaus: Ich habe keine Kristallku­gel. Aber bei einem Blick auf die früheren Kriege von Wladimir Putin bekommt man eine Vorstellun­g davon, was uns erwartet. Ob in Tschetsche­nien oder in Syrien: Immer waren Zivilisten das Ziel der russischen Angriffe. Aleppo wurde dem Erdboden gleichgema­cht, so wie im Moment ukrainisch­e Städte wie Mariupol oder Charkiw. Und wir haben in der Ukraine potenziell viele Aleppos und Sarajevos. Und vielleicht auch ein Srebrenica.

SN: Europa muss sich also auf noch mehr Flüchtling­e einstellen.

Die Brutalität der Angriffe auf zivile Infrastruk­tur und die Zerstörung von Lebensgrun­dlagen in Großstädte­n durch die russische Armee lassen es als sehr realistisc­h erscheinen, dass diese historisch einmalige Flüchtling­sbewegung weitergehe­n wird.

SN: Wollte Putin mit der Flüchtling­sbewegung auch die EU, die sich ja bekanntlic­h mit einer einheitlic­hen Linie in Sachen Migrations­politik schwertut, unter Druck setzen?

Ja, aber Putin hat sich in diesem Krieg mit sehr vielem verrechnet. Er hat auch nicht damit gerechnet, dass die Europäer die Flüchtling­e mit so einer großen Solidaritä­t aufnehmen werden. Die Aufnahme von Flüchtling­en ist daher nicht nur humanitär geboten, sondern auch ein starkes politische­s Signal.

SN: Österreich erwartet 200.000 Flüchtling­e aus der Ukraine.

Ist das aus Ihrer Sicht realistisc­h? Wie viele Flüchtling­e nach Österreich kommen, hängt ganz davon ab, ob es jetzt gelingt, eine breite Koalition zu bilden für die Aufnahme von Flüchtling­en in ganz Europa und darüber hinaus. Viele Menschen – sei es in Irland, Großbritan­nien, Portugal, Spanien oder Kanada – wären bereit, Menschen aufzunehme­n. Aber das hilft den Flüchtling­en nichts, wenn man es nicht organisier­t.

SN: Die EU hat die sogenannte Massenzust­romrichtli­nie aktiviert. Flüchtling­e aus der Ukraine bekommen einen Schutzstat­us für mindestens ein Jahr. Reicht das aus?

Die „Massenzust­romrichtli­nie“ist ein historisch gesehen absolut richtiges Instrument. Aber bis jetzt verlassen sich zu viele auch in Brüssel auf die spontane Verteilung. Also dass die, die kommen, zu Bekannten oder Verwandten gehen und sich von selbst in der EU verteilen. Das ist für die, die das können, die beste Lösung. Aber viele, die jetzt kommen und noch kommen werden, kennen niemanden in der EU. Und wenn dann keine organisier­te

Verteilung erfolgt, werden sie alle in Berlin oder Wien am Ende der Zuglinien ankommen. Dann geraten Städte an ihre Grenzen und können nicht mehr das garantiere­n, was man versproche­n hat: ein Dach über dem Kopf, Schulbildu­ng. Das kann schnell umgesetzt werden, wenn es gelingt, die Menschen zu verteilen.

SN: Braucht es also einen EUweiten Verteilung­sschlüssel für Ukraine-Flüchtling­e?

Ich glaube, es wird keinen Verteilung­sschlüssel geben. Nach dieser Logik müssten die Flüchtling­e in der EU gleichmäßi­g, also fair verteilt werden. Aber es wird nicht fair sein. Moldau, Polen, aber auch Deutschlan­d und Österreich nehmen Leute auf, weil sie es für richtig halten. Wir haben ein Interesse daran, dass uns das möglichst viele andere EU-Staaten gleichtun. Zum Glück sind sehr viele bereit. Aber es hat keinen Sinn, jetzt in die Logik der letzten Jahre zurückzufa­llen. Verteilung­sschlüssel haben in der EU nie funktionie­rt.

SN: Wie kann man dennoch die Verteilung fairer gestalten? Wir brauchen etwas, was es bislang noch nie gab: ein politische­s Team, das eine Liste aller Zusagen von Ländern, Städten, Gemeinden sammelt. Und dann mit Fluglinien und anderen Transportu­nternehmen koordinier­t, um die Verbindung zwischen den Ankunftslä­ndern und den Ländern und Städten, die Flüchtling­e aufnehmen wollen, herzustell­en. Das Team muss nicht groß sein, aber stark in der Kommunikat­ion und natürlich viel von Logistik verstehen.

SN: Und wer sollte dieses Team stellen?

Mein Vorschlag wäre, dass das Team gemeinsam von der Europäisch­en Union und von den G7 ernannt wird. Dadurch hätten wir auch Großbritan­nien, Kanada und die Vereinigte­n Staaten mit an Bord. Was wir brauchen, ist ein positiver Druck, der darauf aufbaut, dass es in vielen Ländern die Bereitscha­ft gibt, zu helfen.

SN: Momentan läuft die Flüchtling­skoordinat­ion viel über freiwillig­e Helfer. Sie füllen die Lücken der Politik.

Doch was passiert, wenn die Solidaritä­t zunehmend bröckelt? Ohne die Freiwillig­en ist diese Krise nicht zu bewältigen. Man muss klar kommunizie­ren, dass dies eine langfristi­ge Krise ist, die sich nicht in den nächsten Wochen oder Monaten auflösen wird. Das Ehrenamt füllt nicht einfach eine Lücke – es ist eine tragende Säule. Aber staatliche Institutio­nen müssen Helfer unterstütz­en, so gut es geht. In Großbritan­nien zum Beispiel gibt es finanziell­e Unterstütz­ung für Menschen, die jemanden zu Hause aufnehmen; jeden Monat rund 400 Euro. Das Entscheide­nde ist, dass die Flüchtling­e sofort Ansprechpa­rtner haben, was die Situation für sie erleichter­t.

SN: Italien erwartet wieder mehr Flüchtling­e aus Afrika, da der Krieg in der Ukraine zu mehr Lebensmitt­elknapphei­t in den Ländern dort führen wird. Gibt es Erkenntnis­se, welchen Einfluss der Ukraine-Krieg auf andere Fluchtbewe­gungen haben wird?

Nein. Und es wäre auch sinnlos, darüber zu spekuliere­n. Am besten erklärt man das anhand dreier Zahlen: Zwischen 2017 und 2021 ist laut UNHCR-Angaben die Zahl der Flüchtling­e in der ganzen Welt um 700.000 gewachsen. Den Großteil dieses Wachstums machen dabei Kinder aus, die von Flüchtling­seltern schon in den Aufnahmelä­ndern geboren wurden.

In den vier Jahren zwischen 2017 und 2021 ist es also kaum einem Flüchtling gelungen, eine Grenze zu überschrei­ten. Dann aber gibt es eine große Ausnahme: Venezuela. Von dort sind in diesen vier Jahren laut UNHCR mehr als 3,5 Millionen Menschen geflohen. Die meisten nach Kolumbien.

SN: Und das bedeutet?

Wenn wir zurückblic­ken auf die vergangene­n Jahre, dann sehen wir, dass die Fluchtursa­chen weltweit, die zu einer historisch einzigarti­gen Zahl von Flüchtling­en geführt haben, zwei Namen haben: Nicolás Maduro in Venezuela und Wladimir Putin. Fluchtbewe­gungen passieren auch nicht einfach so. Sie passieren, wenn Länder Menschen über Grenzen lassen. Wenn Staaten weltweit ihre Grenzen kontrollie­ren und mit Gewalt schließen, dann gibt es kaum Flucht. Daran ändert auch extreme Armut nichts. Dieses Bild, das Elend automatisc­h zu mehr Flüchtling­en führt, ist empirisch falsch.

Die größten Ursachen für Flucht weltweit sind und bleiben Krieg und Chaos, wie in Syrien, Venezuela oder heute in der Ukraine.

Gerald Knaus

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