„Das ist ein totaler Krieg – in Europa!“
Hyperschallwaffen, Gräuelvideos, „Informationsbomben“– ein Militärexperte zieht eine bittere Bilanz nach einem Monat Ukraine-Krieg.
WIEN. Seit einem Monat toben die Kämpfe in der Ukraine. „Ausgang und Dauer des Krieges sind völlig offen“, lautet die aktuelle Lageeinschätzung von Oberst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie. Die Hoffnungen der Russen auf einen schnellen Erfolg haben sich zerschlagen. Der Konflikt ist damit in die Phase des Abnützungskrieges eingetreten.
Die Taktik der Ukrainer, die Nachschubwege der Russen aus dem Hinterhalt anzugreifen, hat sich als überraschend erfolgreich erwiesen. Die zweite Überraschung war, dass die Einsatzführung der Russen nicht so funktioniert wie erwartet, sagt Reisner. Die Ukraine profitiert dabei von der massiven westlichen Unterstützung in Sachen militärischer Aufklärung:
Täglich hat der Westen im Umkreis der Ukraine bis zu 15 Aufklärungsflugzeuge im Einsatz, die elektromagnetisch jeden russischen Gefechtsstand peilen können. Die Ukrainer wissen also immer, wo welche russischen Einheiten stehen und wo die verwundbaren Stellen der Russen sind. Das ist auch der Grund für die vielen Opfer unter den russischen Generälen.
Wie lange der Abnützungskrieg dauert, wisse niemand, sagt Reisner. „Es kann monate- oder jahrelang dauern. Denken Sie an den Syrien-Krieg.“Die Frage sei, wer den längeren Atem habe. Reisner vergleicht den Konflikt mit einem Kartenspiel: „Putin hat die Militärkarte gezogen, der Westen hat mit der Wirtschaftskarte – den Sanktionen – geantwortet. Aber die Wirtschaftskarte
wirkt erst mittel- und langfristig, Putins Militärkarte wirkt sofort. Und Putin zieht jetzt auch seine Wirtschaftskarte, indem er das Gas nur noch in Rubel abrechnen will.“So entstehe eine Art Wirtschaftskrieg – quasi Sanktionen gegen Preissteigerungen –, bei dem ebenfalls offen sei, wer den längeren Atem habe.
Freilich gebe es in diesem Kartenspiel auch die Möglichkeit eines plötzlichen, unerwarteten Endes.
Eine denkbare Variante sei ein Umsturz in Moskau, sagt Reisner. In dieser Beziehung gebe es derzeit viele Nachrichten: Ein enger PutinBerater soll sich in die Türkei abgesetzt haben. Wichtige Generäle und Geheimdienstchefs sollen verschwunden oder unter Hausarrest gestellt worden sein. – Alle diese Meldungen seien interessant, sagt Reisner. Am Gefechtsfeld sei von einem Umdenken in Moskau aber nichts zu bemerken. Die Russen würden derzeit zusätzliche Kräfte heranführen und die Luftangriffe sogar noch verstärken.
Rasch zu Ende wäre der Krieg möglicherweise auch, wenn es den Russen gelänge, den ukrainischen Präsidenten Selenskyj auszuschalten. Laut Reisner beherrschen die Russen mit ihren Drohnen den Luftraum über der Hauptstadt Kiew, was sich daran zeige, dass sich Selenskyj bei seinen letzten beiden Videos nicht mehr im Freien gezeigt habe. Offenbar sei das zu gefährlich geworden. In den russischen Medien wird das als großer Erfolg angesehen.
Wie Reisner überhaupt die Rolle der Medien in diesem Krieg herausstreicht: „Die Russen präsentieren jede Woche ein neues Waffensystem – zuletzt die Hyperschallwaffen, die angeblich alle Abwehrsysteme überwinden und atomar bestückt werden können. Das sind Informationsbomben, die dem Westen und der Ukraine zeigen sollen: Wir können euch überall treffen!“
Wird Putin womöglich auch die atomare Karte ziehen? Reisner schließt nicht aus, dass die Russen, falls sie ins Hintertreffen geraten sollten, zu Demonstrationszwecken über dem Schwarzen Meer eine Atombombe zünden, um den Westen aufzuscheuchen.
Apropos „Informationsbomben“: Auf beiden Seiten kursieren Videos über Gefangenen-Erschießungen. Und es gibt ein (möglicherweise gefälschtes) Video, auf dem ein ukrainischer Militärarzt droht, alle russischen Gefangenen zu kastrieren. In den russischen sozialen Netzwerken verbreitete sich dieses Video rasend schnell. „Da versteht man, warum immer verbissener gekämpft und nicht verhandelt wird. Es geht um alles“, sagt Reisner.
Und er nennt ein weiteres Beispiel: Beide Seiten setzen Mehrfachraketenwerfer ein – eine verheerende Waffe, die auf einer Fläche von 800 mal 800 Metern alles Leben auslöscht, ohne Unterschied und ohne Rücksicht. Reisner: „Das ist ein totaler Krieg – in Europa!“
„Ausgang und Dauer sind völlig offen.“
Oberst Markus Reisner, Bundesheer