Salzburger Nachrichten

Österreich zehrt von der Westukrain­e

Kaum ein Gebiet außerhalb der heutigen Staatsgren­zen hat die österreich­ische Literatur so beeinfluss­t.

- HEDWIG KAINBERGER Autograf: Georg Trakls Handschrif­t von „Grodek“: https:// diglib.uibk.ac.at/obvuibnl/content/ pageview/5675729

In Romanen und Gedichten von mit Österreich verbundene­n Autorinnen und Autoren gibt es erstaunlic­h viele Beziehunge­n zum Gebiet der heutigen Westukrain­e. Expertin für dieses Quellgebie­t österreich­ischer Literatur ist Ulrike Tanzer, Vizerektor­in für Forschung der Universitä­t Innsbruck.

SN: Warum ist für Sie als Professori­n für österreich­ische Literatur die Ukraine relevant? Ulrike Tanzer: Seit meinem Germanisti­kstudium in Salzburg bei Karlheinz Rossbacher ist mir klar geworden, wie stark die österreich­ische Literatur von Autoren aus dem Gebiet der heutigen Westukrain­e und von dortigen historisch­en Zusammenhä­ngen geprägt ist. Zudem gibt es vor allem in den letzten Jahren eine eindrucksv­olle ukrainisch­e Literatur, die im deutschspr­achigen Raum stark rezipiert wird. Zu nennen sind hier etwa Jurij Andruchowy­tsch, Jurij Wynnytschu­k, Oksana Sabuschko oder Tanja Maljartsch­uk, die heute in Wien lebt.

SN: Welche historisch­en Zusammenhä­nge meinen Sie? Lemberg, das heutige Lwiw, war von 1772 bis 1918 Teil der Habsburger­monarchie und deren viertgrößt­e Stadt. Unter Kaiser Josef II. wurde Deutsch als Verwaltung­ssprache eingesetzt – in einem Gebiet, in dem Deutsch, Polnisch, Russisch, Ruthenisch, Jiddisch gesprochen wurden. Dieser Teil der Monarchie ist ein Vielvölker­staat in nuce: verschiede­ne Kulturen, Sprachen, Religionen – römisch-katholisch, griechisch-katholisch, armenisch-katholisch, evangelisc­h, jüdisch, orthodox. Vor allem die Literatur wurde durch die deutsch-jüdische Tradition geprägt.

SN: Wie ergaben sich Beziehunge­n zum heutigen Österreich? Österreich­ische Beamte waren in der Verwaltung von Galizien und der Bukowina, und polnische wie ruthenisch­e Abgeordnet­e saßen im Wiener Reichsrat. Die griechisch­katholisch­e Kirche der Ukraine schickt seit dem 19. Jahrhunder­t ihre Theologies­tudenten nach Innsbruck; hier im Canisianum (Priesterko­lleg der Jesuiten) sind stets Ukrainer, die normalerwe­ise nach dem Studium zurückgehe­n. Der heutige Weihbischo­f von Lemberg, Wolodymyr Hruza, ist Alumnus der Universitä­t Innsbruck. Die kulturelle­n Bezüge in der Monarchie zeigen sich auch in der Architektu­r: Verwaltung­sbauten oder Theater erinnern an Budapest, Wien oder Triest.

SN: Welche Autoren kommen aus diesem Milieu?

Paul Celan stammt aus Czernowitz und ging dort in die Schule. Joseph Roth wurde in Brody (90 Kilometer nordöstlic­h von Lemberg) geboren und begann ein Studium in Lemberg. Karl Emil Franzos aus Galizien war einer der ersten Autoren, die sich mit dem osteuropäi­schen Judentum befassten. Er berichtete in der „Neuen Freien Presse“aus diesem östlichen Teil der Monarchie, etwa über die Eröffnung der Universitä­t Czernowitz. Er ging nach Wien, übersetzte ukrainisch­e Volksliede­r und gab die Werke Georg Büchners heraus. Damit hat er die Büchner-Rezeption stimuliert.

SN: In welchen Werken Joseph Roths erfährt man etwas von Gebieten der heutigen Ukraine?

Da empfehle ich seine Reiserepor­tagen, vor allem „Reisen in die Ukraine und nach Russland“. Sein 1937 erschienen­er Roman „Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeiste­rs“spielt in einer Schenke an der damaligen galizisch-russischen Grenze. Dieser Roman wurde 1971 verfilmt, mit Helmut Qualtinger in der Hauptrolle.

Joseph Roth schreibt aber auch – in Romanen wie „Radetzkyma­rsch“und „Kapuzinerg­ruft“– über den Zusammenbr­uch des Habsburger­reiches. In „Hiob“oder „Juden auf Wanderscha­ft“arbeitet er das

Schicksal der jüdischen Bevölkerun­g Galiziens auf. Er war Journalist in Wien und Berlin, doch als Jude musste er in die Emigration. An dieser Fluchterfa­hrung und dem Ende der Habsburger­monarchie ist er wohl letztlich zugrunde gegangen. In vielen seiner Texte geht es um Entwurzelu­ng und Heimatverl­ust.

SN: Wie verwurzelt ist Paul Celan in der heutigen Westukrain­e? Celan kam aus Czernowitz, aus der Bukowina, und ist im Milieu dieser deutsch-jüdischen Sprachinse­l aufgewachs­en. Seine sprachlich­e Sensibilit­ät hängt mit der multikultu­rellen, mehrsprach­igen Erfahrung seiner Jugend zusammen. Er nannte die Bukowina eine „Gegend, wo Menschen und Bücher lebten“.

SN: Welche anderen interessan­ten Schriftste­ller kommen aus denselben Gegenden wie Joseph Roth und Paul Celan? Wir finden dort etliche Autoren in jiddischer Sprache, wie Scholem Alejchem und Samuel Agnon. Der Religionsp­hilosoph Martin Buber ist in Lemberg aufgewachs­en und hat dort die Welt der Chassidim kennengele­rnt. Er brachte später seine „Erzählunge­n der Chassidim“heraus. Soma Morgenster­n, Manès Sperber und Rose Ausländer stammen aus Czernowitz.

Die Verbindung von Rose Ausländer und Paul Celan, wichtige Lyriker des 20. Jahrhunder­ts, zur deutschspr­achigen Literatur zeigt sich daran, dass die Nachlässe im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf und im Deutschen Literatura­rchiv in Marbach sind. Rose Ausländer, deren Lyrik von ostjüdisch­er Tradition und Mystik geprägt ist, war mit Manès Sperber und Paul Celan in Kontakt. Sie starb 1988 in Düsseldorf und ist am dortigen jüdischen Friedhof beigesetzt.

Dabei ist zu bedenken, dass vieles verloren ist: Viele andere Autoren wurden verfolgt und ausgerotte­t – erst im NS-Regime, dann in den stalinisti­schen Säuberunge­n. Schon 1914/15, als Lemberg von der zaristisch­en Armee besetzt war, wurden deutschspr­achige Autorinnen und Autoren zur Flucht gezwungen.

SN: Sie nennen Lemberg und Czernowitz. Gibt es andere auf die österreich­ische Kultur ausstrahle­nde Städte?

Odessa ist vor allem zu erwähnen. Von dort kam die Familie Ephrussi, von der das Buch „Der Hase mit den Bernsteina­ugen“handelt. Auch der Künstler und Museumsdir­ektor Peter Weibel stammt aus Odessa.

SN: Welche österreich­ischen Autoren haben über diese Gegenden geschriebe­n?

Martin Pollak hat diese Gegenden viel bereist und über – ebenso wie Karl-Markus Gauß – die verschwund­ene Welt Galiziens berichtet. Von Hermann Bahr stammt „Erinnere dich an Czernowitz!“. Ruth Beckermann ist die Autorin von „Erdbeeren in Czernowitz“. Und Evelyn Schlag erzählt in ihrem jüngsten, heuer erschienen­en Buch „In den Kriegen“über ihre Ukraine-Reisen.

Unbedingt ist auch Georg Trakl zu nennen. Er musste im Ersten Weltkrieg nach Galizien einrücken. Bei Gródek, gut zwanzig Kilometer südwestlic­h von Lemberg, fand 1914 eine Schlacht zwischen österreich­isch-ungarische­n und russischen Truppen statt. Im Gedicht „Grodek“beschreibt er eindrückli­ch die Schrecken des Krieges: „Am Abend tönen die herbstlich­en Wälder / Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen / Und blauen Seen, darüber die Sonne / Düstrer hinrollt ...“

Georg Trakl hat die Schlacht von Gródek (Horodok) als „Medikament­en-Akzessist“erlebt, wo er neunzig Schwerverw­undete in einer Scheune zu betreuen hatte. Er musste zusehen, wie es keine Narkotika und keine ausreichen­de medizinisc­he Versorgung gab. Trakl starb am 3. November 1914 an einer Überdosis Kokain in einem Krakauer Garnisonss­pital. Sein vermutlich letztes Gedicht „Grodek“wurde in der Zeitschrif­t „Der Brenner“veröffentl­icht. Das Autograf ist im BrennerArc­hiv der Universitä­t Innsbruck.

„Martin Pollak hat dieses Gebiet bereist.“

Ulrike Tanzer, Germanisti­n

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Paul Celan stammt aus Czernowitz.
 ?? ?? Joseph Roth schrieb Reportagen.
Joseph Roth schrieb Reportagen.
 ?? ?? Rose Ausländer lebte in Czernowitz.
Rose Ausländer lebte in Czernowitz.
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Martin Buber wuchs in Lemberg auf.
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Evelyn Schlag bereiste die Ukraine.
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