Salzburger Nachrichten

Plötzlich auf Kinderauge­nhöhe „Niemand weiß, was mit Kindern zu tun ist“

Im Film „Come on, Come on“spielt Joaquin Phoenix einen Onkel, der auf einmal Verantwort­ung übernehmen muss – und eine neue Welt entdeckt.

- Film: „Come on, Come on“. Drama, USA 2022. Regie: Mike Mills. Mit Joaquin Phoenix, Gaby Hoffmann, Woody Norman. Start: 25. 4. MAGDALENA MIEDL

WIEN. Es sind große Fragen, die der New Yorker Radiojourn­alist Johnny (gespielt von Joaquin Phoenix) in Mike Mills’ sanftmütig­em SchwarzWei­ß-Film „Come on, Come on“seinen jungen Gesprächsp­artnerinne­n und Gesprächsp­artnern stellt. „Was macht dich traurig? Wie stellst du dir die Zukunft vor? Wie soll deine Stadt einmal aussehen?“

Nichts davon lässt sich aus dem Handgelenk beantworte­n, doch genau das ist die Idee an dem Projekt, für das Johnny mit dem Mikrofon durch die USA herumreist. „Was hätten die Erwachsene­n tun können, um uns auf einen besseren Weg zu bringen? Was würdest du deinen Eltern sagen, wenn sie die Kinder wären?“

Johnny befragt die Kinder und Jugendlich­en aus der bequemen liberalen Erwachsene­nhoffnung heraus, dass es die nächste Generation eh richten wird, das mit dem Klima, mit den Kriegen, mit der wirtschaft­lichen Gerechtigk­eit. Die Bequemlich­keit währt allerdings nicht lange: Johnnys Schwester Viv (Gaby Hoffmann, aus der Serie „Girls“), die in Kalifornie­n lebt, ruft ihn um Hilfe. Ihr Ehemann ist in einer psychische­n Ausnahmesi­tuation, sie muss sich kümmern, und jemand muss auf ihren Sohn Jesse (Woody Norman) aufpassen.

Selbstvers­tändlich bietet Johnny seine Hilfe an, dabei kennt er seinen Neffen kaum: Jesse ist ein altkluger Achtjährig­er, ein einfallsre­iches Intellektu­ellenkind, das ohne die speziellen Regeln seiner Familie schnell aus dem Gleichgewi­cht gerät. Mangels Onkelerfah­rung versucht Johnny es zuerst mit seinem berufliche­n Handwerksz­eug als Journalist, aber Jesse verweigert sich dem Befragtwer­den, fordert Vorlesen ein und stellt Gegenfrage­n, die wehtun: „Warum bist du eigentlich nicht verheirate­t?“

Bei aller scheinbare­n Erzählbeil­äufigkeit ist „Come on, Come on“ auf mehreren Ebenen solide strukturie­rt: als Reise durch Amerika mit den vier Städten Detroit, Los Angeles, New York und New Orleans als Identifika­tions-Eckpunkte, als Geschichte einer Familie, bei der die komplizier­te Beziehung zur Mutter von Johnny und Viv immer noch eine Rolle spielt. Und als Lob des Lesens: Jesse ist ein Kind, das ohne Vorlesebuc­h nicht einschlafe­n kann, und die Bücher, die er abends zu hören bekommt, haben alle eine spezielle Bedeutung, vom „Zauberer von Oz“über das Problemkin­derbuch „The Bipolar Bear Family“von Angela Ann Holloway bis zu Fachartike­ln über die Arbeit des Interviewe­ns und Jacqueline Roses Aufsatz über Mutterlieb­e.

„Come on, Come on“ist ein erstaunlic­her Onkel-Neffen-Film, der vom Zusammenra­ufen zweier Menschen handelt, die gar nicht so unterschie­dlich sind, wie sie zunächst meinen. Beide sind sie verwöhnt, beide erwarten sie von der Welt, sich nach ihnen zu richten, aber das funktionie­rt eben nur manchmal. Notgedrung­en nimmt Johnny seinen Neffen auf Reportager­eise mit, stellt ihn seinem Redaktions­team vor, nimmt ihn nach New York mit und nach New Orleans. Während Johnny tagsüber ernste Kinder interviewt, die als Söhne und Töchter von Einwandere­rfamilien das Fremdsein von ihrer Umgebung zu spüren bekommen, versuchen abends Jesse und er das Fremdsein innerhalb der Familie zu überwinden. Immer wieder scheitert Johnny an seiner Onkelrolle, verliert Jesse im New Yorker Straßenver­kehr, findet ihn wieder, und lernt dabei über das Kindsein mindestens so viel wie über das Kinderhabe­n. Irgendwann ruft er seine Schwester an und klagt: „Ich hab keine Ahnung, was ich hier tue!“und sie antwortet: „Willkommen in meinem Leben. Niemand weiß in Wahrheit, was mit Kindern zu tun ist. Mach einfach weiter, es wird gut werden.“

„Come on, Come on“ist ein ungemein tröstliche­r Film, der erzählt, das Menschen halt komplizier­t und komisch sind und das Komischsei­n ganz normal ist. „Ich werde das später alles vergessen haben“, sagt Jesse irgendwann, voller Sorge. Und Johnny sagt ihm: „Ich werde dich an alles erinnern.“

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BILD: SN/DCM FILM DISTRIBUTI­ON Auch Onkel sein ist kein Kinderspie­l: Joaquin Phoenix mit Woody Norman.

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