Plötzlich auf Kinderaugenhöhe „Niemand weiß, was mit Kindern zu tun ist“
Im Film „Come on, Come on“spielt Joaquin Phoenix einen Onkel, der auf einmal Verantwortung übernehmen muss – und eine neue Welt entdeckt.
WIEN. Es sind große Fragen, die der New Yorker Radiojournalist Johnny (gespielt von Joaquin Phoenix) in Mike Mills’ sanftmütigem SchwarzWeiß-Film „Come on, Come on“seinen jungen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern stellt. „Was macht dich traurig? Wie stellst du dir die Zukunft vor? Wie soll deine Stadt einmal aussehen?“
Nichts davon lässt sich aus dem Handgelenk beantworten, doch genau das ist die Idee an dem Projekt, für das Johnny mit dem Mikrofon durch die USA herumreist. „Was hätten die Erwachsenen tun können, um uns auf einen besseren Weg zu bringen? Was würdest du deinen Eltern sagen, wenn sie die Kinder wären?“
Johnny befragt die Kinder und Jugendlichen aus der bequemen liberalen Erwachsenenhoffnung heraus, dass es die nächste Generation eh richten wird, das mit dem Klima, mit den Kriegen, mit der wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Die Bequemlichkeit währt allerdings nicht lange: Johnnys Schwester Viv (Gaby Hoffmann, aus der Serie „Girls“), die in Kalifornien lebt, ruft ihn um Hilfe. Ihr Ehemann ist in einer psychischen Ausnahmesituation, sie muss sich kümmern, und jemand muss auf ihren Sohn Jesse (Woody Norman) aufpassen.
Selbstverständlich bietet Johnny seine Hilfe an, dabei kennt er seinen Neffen kaum: Jesse ist ein altkluger Achtjähriger, ein einfallsreiches Intellektuellenkind, das ohne die speziellen Regeln seiner Familie schnell aus dem Gleichgewicht gerät. Mangels Onkelerfahrung versucht Johnny es zuerst mit seinem beruflichen Handwerkszeug als Journalist, aber Jesse verweigert sich dem Befragtwerden, fordert Vorlesen ein und stellt Gegenfragen, die wehtun: „Warum bist du eigentlich nicht verheiratet?“
Bei aller scheinbaren Erzählbeiläufigkeit ist „Come on, Come on“ auf mehreren Ebenen solide strukturiert: als Reise durch Amerika mit den vier Städten Detroit, Los Angeles, New York und New Orleans als Identifikations-Eckpunkte, als Geschichte einer Familie, bei der die komplizierte Beziehung zur Mutter von Johnny und Viv immer noch eine Rolle spielt. Und als Lob des Lesens: Jesse ist ein Kind, das ohne Vorlesebuch nicht einschlafen kann, und die Bücher, die er abends zu hören bekommt, haben alle eine spezielle Bedeutung, vom „Zauberer von Oz“über das Problemkinderbuch „The Bipolar Bear Family“von Angela Ann Holloway bis zu Fachartikeln über die Arbeit des Interviewens und Jacqueline Roses Aufsatz über Mutterliebe.
„Come on, Come on“ist ein erstaunlicher Onkel-Neffen-Film, der vom Zusammenraufen zweier Menschen handelt, die gar nicht so unterschiedlich sind, wie sie zunächst meinen. Beide sind sie verwöhnt, beide erwarten sie von der Welt, sich nach ihnen zu richten, aber das funktioniert eben nur manchmal. Notgedrungen nimmt Johnny seinen Neffen auf Reportagereise mit, stellt ihn seinem Redaktionsteam vor, nimmt ihn nach New York mit und nach New Orleans. Während Johnny tagsüber ernste Kinder interviewt, die als Söhne und Töchter von Einwandererfamilien das Fremdsein von ihrer Umgebung zu spüren bekommen, versuchen abends Jesse und er das Fremdsein innerhalb der Familie zu überwinden. Immer wieder scheitert Johnny an seiner Onkelrolle, verliert Jesse im New Yorker Straßenverkehr, findet ihn wieder, und lernt dabei über das Kindsein mindestens so viel wie über das Kinderhaben. Irgendwann ruft er seine Schwester an und klagt: „Ich hab keine Ahnung, was ich hier tue!“und sie antwortet: „Willkommen in meinem Leben. Niemand weiß in Wahrheit, was mit Kindern zu tun ist. Mach einfach weiter, es wird gut werden.“
„Come on, Come on“ist ein ungemein tröstlicher Film, der erzählt, das Menschen halt kompliziert und komisch sind und das Komischsein ganz normal ist. „Ich werde das später alles vergessen haben“, sagt Jesse irgendwann, voller Sorge. Und Johnny sagt ihm: „Ich werde dich an alles erinnern.“