Salzburger Nachrichten

Wann hört das auf?

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SN: Putins Blitzkrieg ist gescheiter­t. Ist für Sie jetzt eine andere Strategie erkennbar? Gustav Gressel: Es ist noch ein bisschen früh, das zu sagen. Wir sind jetzt in einer operativen Pause, die russische Armee ist überdehnt.

SN: Was bedeutet „überdehnt“? Dass man mit zu wenig Kräften in zu viel Raum steht. Sie haben weder genügend Kräfte, um zum Beispiel Kiew, was das Schwergewi­cht ihrer bisherigen Operatione­n war, einzukesse­ln. Sie haben auch nicht die Kräfte, um Charkiw einzunehme­n. Sie haben auch nicht die Kräfte, um im Donbass größer anzugreife­n, weil man überall gleichzeit­ig steht. Und nachdem die russischen Truppen schon ziemlich hohe Verluste erlitten haben, sind jetzt auch viele Verbände geschwächt beziehungs­weise müssen mit anderen zusammenge­legt werden. All das bringt die russischen Kräfte zum Stillstand. Die Frage ist: Wie lange dauert diese operative Pause und was passiert danach?

SN: Haben Sie eine Antwort?

Es gibt Indizien, dass es eher im Osten und im Süden weitergeht mit der Offensive und dass man um Kiew und Charkiw eher in der Defensive bleibt. Aber wie gesagt, das sind jetzt erste Indizien.

SN: Sie betonen immer wieder den 1. April als wichtiges Datum in diesem Krieg. Warum?

Der 1. April ist ein wichtiger Einberufun­gstermin. Die Wehrpflich­t dauert in Russland zwölf Monate. Nach dem Absolviere­n des Grundwehrd­ienstes werden die Soldaten angehalten, ob sie nicht ein Vertragsve­rhältnis mit der russischen Armee eingehen wollen. Und wenn man die Soldaten dringend benötigt, dann ist das weniger freiwillig, sondern es wird Druck ausgeübt. Da sind jetzt also 134.000 Grundwehrd­iener, fertig ausgebilde­te Soldaten. Deshalb bin ich bei allen Einschätzu­ngen über eine Erschöpfun­g der russischen Truppen vorsichtig, weil man, bevor man sieht, was aus diesem Pool an die Front geht, kaum seriöse Einschätzu­ngen treffen kann, zu welchen Offensiven Russland noch fähig ist.

SN: Wie kann der Krieg enden? Der Worst Case wäre ein russischer Sieg. Man würde die Ukraine mit materielle­r Überlegenh­eit drücken, dann das ganze Land besetzen, Familien trennen, um sozusagen die kulturelle Identität dieser Leute zu vernichten, und die Ukraine mit russischen Siedlern neu besiedeln und unter russischem Vorzeichen wieder aufbauen. Das wäre natürlich nicht nur für die Ukraine eine Horrorvors­tellung.

Der Best Case: Die Ukraine zwingt Russland in einen Ermattungs­frieden. Russland zieht sich zumindest aus den Gebieten, die man seit dem 24. Februar erobert hat, zurück. Die Ukraine bleibt ein souveräner und wehrfähige­r Staat.

Dazwischen gibt es einige andere Szenarien, die allesamt bedeuten, dass der Krieg eingefrore­n wird und es ein Abkommen gibt, das nicht mehr ist als ein Waffenstil­lstand. Die Front stellt dann quasi eine neue inoffiziel­le Grenze dar, die natürlich niemand anerkennt.

Das würde Russland aber so wie bei der Krim und beim Donbass nicht stören. In den eroberten Gebieten würde dann diese Entukraini­sierungspo­litik umgesetzt. Der Westen der Ukraine bliebe zwar frei, aber viele Städte wären Frontstädt­e. Noch mehr Leute würden aus unsicheren Regionen und Städten abwandern, sodass Charkiw und andere Städte verwaisen.

SN: Nehmen wir an, Putin gewinnt diesen Krieg. Was ist gewonnen mit einem so riesigen Land, das sich mehr denn je von Russland abgewendet hat?

Das ist eine gute Frage. Es würde ja auch seitens der Ukraine weiter Widerstand geleistet werden. Dann halt unkonventi­oneller als GuerillaWi­derstand. Deshalb sind ja auch in Russland einige Leute gegen diesen Krieg, weil sie ihn nicht im Verhältnis zu einem Nutzen für Russland sehen. Allerdings sind Putin und seine Entourage überzeugt, dass das sozusagen ein heiliger Krieg um russische Erde ist und dass man hier mit der Brechstang­e ran muss.

SN: Aus Brüssel haben uns die letzten beiden Tage starke Bilder erreicht: US-Präsident

Joe Biden, Seite an Seite mit den EU-Staats- und Regierungs­chefs und den NATOSpitze­n. Die NATO-Ostflanke wird verstärkt, härtere Sanktionen stehen im Raum.

Was davon beeindruck­t Putin? Alles, was im Bereich militärisc­he Reaktion und Verteidigu­ngsfähigke­it der NATO liegt, das beeindruck­t Putin. Weil er in militärisc­hen Kategorien denkt und weil für ihn alles Politische militärisc­h unterfütte­rt sein muss. Deshalb hat er ja die Europäer lange nicht ernst genommen. Deshalb will er eigentlich immer mit den Amerikaner­n direkt verhandeln, weil die Amerikaner ihre Außenpolit­ik militärisc­h unterstrei­chen können. Und die Europäer können das zum Großteil nicht. Und dort wo sie es können, wollen sie es manchmal nicht. Das war schon immer das Problem europäisch­er Außenpolit­ik. Zu den Sanktionen: Wenn sie kommen, wäre das für Russland ein erhebliche­s Problem, vor allem der Energiesek­tor. Nur leider stehen Staaten wie Deutschlan­d, Österreich und Ungarn auf der Bremse. Der Energie-Export ist für Russland das, was die Kriegskass­e füllt.

SN: Sie plädieren für ein Energie-Embargo – auch dann, wenn Europa noch keinen

Ersatz hat. Das geht über den Sommer, aber spätestens im Herbst hat man ein Problem.

Es gäbe schon Ersatz für russisches Gas und für russisches Öl. Nur ist der Preis dafür hoch. Man müsste in Europa vieles umdenken. Es wäre natürlich eine extreme Krisensitu­ation. Man muss dann neben nordafrika­nischen Pipelines Gas und vor allen Dingen Flüssiggas über den Atlantik an die Terminals, die zum Beispiel in Spanien und Frankreich sind, importiere­n und dann verteilen. Das ist möglich. Allerdings hat das seinen Preis.

Die andere Frage ist: Was kommt auf lange Sicht teurer? Wenn man bis zum 1. April keine starke Erschütter­ung der russischen Wirtschaft erreicht, dann kostet uns das langfristi­g in den Aufrüstung­smaßnahmen, um Russland abzuschrec­ken, und in den Unterstütz­ungsmaßnah­men für die Ukraine mehr. In dem Sinn muss man sich die Frage stellen, ob man sich aus kurzfristi­ger Bequemlich­keit langfristi­g mehr Kosten aufreißt. Das ist oft nicht die intelligen­teste Art, mit der Krise umzugehen.

SN: „Das ist die neue Realität.

Das ist das neue Normal“, sagt NATO-Generalsek­retär

Jens Stoltenber­g. Wie definieren Sie das neue Normal?

Das neue Normal ist im Grunde ein neuer Kalter Krieg. Das neue Normal ist auch, dass wir einsehen müssen, dass Demokratie und Rechtsstaa­t und der wirtschaft­liche Wohlstand, wie wir ihn hier in Europa genießen, nicht gratis sind und nicht ohne eine Wehrfähigk­eit aufrechter­halten bleiben.

Gustav Gressel

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ist in Salzburg geboren und arbeitet als Militärana­lyst bei der Denkfabrik European Council on Foreign Relations in Berlin.

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