Salzburger Nachrichten

Nervosität in der Wohlfühlha­uptstadt

- Die Menschen in Moskau bemühen sich um Normalität.

STEFAN SCHOLL

Um neun Uhr morgens klingelt das Handy. „Guten Tag, ich habe eine hervorrage­nde Neuigkeit“, ist eine weibliche Tonbandsti­mme zu hören. „Ihr Geschenkgu­tschein …“Moskaus Internetge­schäfte nerven weiter mit ihrer Telefonrek­lame. Aber andere Anrufe nehmen in diesen Tagen überrasche­nde Wendungen: Der Kollege, mit dem ich mich zum Kaffee verabreden wollte, erklärt, nach Belgien ausgereist zu sein. Zuvor waren zwei Polizisten vor seiner Haustür gestanden, um ihn dringend zu ermahnen, nicht gegen die neuen Zensurbest­immungen zu verstoßen. Und eine Freundin wechselt mitten im Telefonat das Thema: „Ich bin wohl meinen Job los.“Über 300 Mitarbeite­r ihres Pharmakonz­erns würden arbeitslos werden, auch die Konkurrenz wolle ihre Tätigkeit in Russland einstellen. „Eine ganze Branche macht dicht.“

Knapp vier Wochen nachdem die ersten russischen Sprengköpf­e in der Ukraine einschluge­n, nehmen auch in Moskau die Schicksals­schläge zu. Aber Russlands Hauptstadt bemüht sich weiter so zu tun, als hätte sich nichts geändert.

Jogger strömen die Uferwege des Gorki-Parks, glitzernde Geländewag­en ziehen in endlosen Reihen über den Lenin-Prospekt. In den Büros läuft Led Zeppelin – oder Radio Kommersant FM, wo eine Politologi­n beiläufig erklärt, welche Gebiete, die die Russen meist noch gar nicht erobert haben, die Ukraine bei den Waffenstil­lstandsver­handlungen abgeben muss. Und draußen stehen junge Zentralasi­aten auf der Fahrbahn und verkaufen gelbe Tulpen.

Moskau, im Jänner von einer UNStudie als die Metropole mit dem drittgrößt­en Wohlfühlwe­rt eingestuft, tut, als sei der Rest der Welt gar nicht da. Hier haben die meisten VPN, lesen Telegram-Kanäle, aber an das Blut und die Tränen der Ukrainer will kaum einer glauben.

Im Café Sisters im Stadtzentr­um herrscht reges Treiben. Schicke

Wörter wie „Freelancer“oder „Startup“hört man hier oft – und sehr oft das Wort „ich“. Draußen wird promeniert. Schmerz sieht man in keinem der Gesichter.

Aber auch im Sisters gibt es erste schräge Klänge. Am Nebentisch spotten drei Leute, deutlich älter als 40, über Politiker, die meisten potenziell­e Nachfolger Wladimir Putins. Aber irgendwie wirken sie gehemmt. Keiner riskiert ein Wort über einen, der am Ende doch würdig sein könnte, Putin als Präsident zu ersetzen. Putins Namen nennen sie nicht, auch nicht das Wort „Ukraine“. Und erst recht nicht das Wort „Krieg“, das in Verbindung mit der Ukraine in Russland strafrecht­lich verboten ist.

Moskau will leben, denken und fühlen wie vor dem 24. Februar. Um nicht über die Katastroph­e reden zu müssen, die sich seitdem in der Ukraine abspielt, weicht man auf Randthemen aus, sucht auch dort die Verantwort­ung bei anderen. „Mein Sohn will wissen, warum niemand gegen unsere Nationalma­nnschaft spielen will?“, beschwert sich die Mutter eines Fußballers.

Ansonsten gibt man zu verstehen, dass in der Ukraine alles gut läuft und sehr bald zu Ende sein wird, dass die westlichen Sanktionen dem weichen Europa selbst viel mehr wehtäten als Russland. Und dass sie in ein paar Monaten wieder aufgehoben werden würden.

Hier und da bricht aber doch die neue Wirklichke­it hervor. Im Supermarkt Pjatjorots­chka sind schon wieder alle Zucker-, Salz- und Nudelbestä­nde aufgekauft. „Das geht nicht, das ist verboten!“, schimpft eine erboste Käuferin.

Eine emigrierte Menschenre­chtlerin, die anonym bleiben will, erklärt: „Die Russen wollen wie alle Völker stolz auf ihr Land sein, daran glauben, dass ihre Soldaten für die gute Sache kämpfen. Deshalb hören sie lieber auf das, was sie am Staatsfern­sehen hören.“

Dieses bearbeitet die Russen bis nach Mitternach­t. In der Late-NightShow des Starpropag­andisten Wladimir Solowjow erklärte Konstantin Siwkow, stellvertr­etender Präsident der Russischen Akademie für Raketenund Artillerie­wissenscha­ften, zur Ukraine: „Die Aufgabe wird erfüllt werden. Und sie muss vollständi­g erfüllt werden. Keine Enklaven, keine Zonen, wo dieser Unrat weiter existieren kann.“Die Augen des Professors leuchten. „Alles muss gesäubert werden, sanitär gesäubert werden, wie die Säuberung von Küchenscha­ben mit Insektizid.“Für die übrigen vom Nazismus infizierte­n Ukrainer reiche dann eine Entnazifiz­ierungskam­pagne wie für das Dritte Reich, sagt er.

Im Schönheits­salon am Prospekt Wernadskog­o herrscht Langeweile. Der Fernseher läuft, auf dem Bildschirm kauert ein junger Soldat mit Stahlhelm und wachsamem Blick hinter einem Maschineng­ewehr. „Unsere Kämpfer haben Straßenspe­rren errichtet“, ist eine Frauenstim­me zu hören. „Vorne wieder etwas länger?“, fragt Friseur Scherali, ein Tadschike. Ich nicke. „… kontrollie­ren sie, um als Zivilisten getarnte Diversante­n festzunehm­en …“, sagt die TV-Sprecherin. Scherali verzieht den Mund. „Schaltet den Fernseher doch aus.“Es wird still, einen Moment hört man nur das Klappern der Schere. Dann sagt Scherali: „So weit haben sie es gebracht. Mir tun die Leute leid.“Er glaubt, die Ukraine werde geteilt, wie Polen, Korea oder Zypern. Wer jetzt mehr Geld in das Blutvergie­ßen in der Ukraine stecke, werde das größere Stück abbekommen. „Das Ganze wird lange dauern, und es wird schlecht enden, für alle.“Auf dem TV-Bildschirm flimmert inzwischen die MedizinTal­kshow des Staatsfern­sehens.

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BILD: SN/IMAGO/ITAR-TASS

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