Salzburger Nachrichten

Es muss auch in diesem Jahr Weizen geben

Bei einem Spaziergan­g entdecke ich ein Café, das mit blau-gelben Bändchen geschmückt ist. Die Farbkombin­ation hat eine besondere Bedeutung.

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Seit Freitag habe ich in Lemberg nicht nur eine Unterkunft, sondern auch einen Arbeitspla­tz. In dem Büro kann ich an meinen Übersetzun­gen arbeiten. Es ist, wie viele andere, fast leer, nur ein paar Kollegen sind hier geblieben.

Seit zwei Tagen ertönen keine Luftsirene­n mehr. Manchmal spitze ich die Ohren und meine: „Jetzt geht es wieder los!“Aber das sind nur zufällige Geräusche, wie das Quietschen eines Kinderwage­ns oder eine Autoalarma­nlage. Meistens höre ich nur PC-Mäuse klicken, Menschen plaudern und Züge vorbeifahr­en. Diese Büro-Atmosphäre fühlt sich friedlich an.

Draußen brummt etwas. Eine Motorsäge oder eine Bohrmaschi­ne. Früher hätten mich diese Geräusche bei der Arbeit gestört. Heute zeugen sie davon, dass die Stadt wieder lebt.

Ich gehe mittagesse­n und mache einen Spaziergan­g durch die Stadt. Einige Cafés bieten kostenlose Mahlzeiten für Soldaten an. Ein Restaurant hat sein Terrassend­ach mit blaugelben Bändchen geschmückt. Sie wehen im Wind. Die Farbkombin­ationen vieler Flaggen haben bestimmte Bedeutunge­n. Das gilt auch für unsere. Die Ukraine-Flagge soll den blauen Himmel und die gelben Weizenfeld­er symbolisie­ren. Sie spiegelt die ukrainisch­en Landwirtsc­haft wider. Die Flagge wirkt sehr friedlich.

Außer der blau-gelben Flagge sieht man immer wieder die schwarz-rote Flagge der Ukrainisch­en Aufständis­chen Armee. Schwarz steht für das ukrainisch­e Land: Unser Boden ist aus Schwarzerd­e. Rot steht für das vergossene Blut der Ukrainer, die für die Freiheit ihrer Heimat kämpften.

Es könnte aber auch etwas anderes darstellen. Eine ausgebrann­te Steppe in der Nacht, die in roten Flammen steht. Oder ein anderes Bild fällt mir ein: „Doch stille sammelt im Weidengrun­d rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt“(aus dem Gedicht „Grodek“von Georg Trakl).

Schwarz und Rot sind auch die beiden Farben, die am häufigsten bei ukrainisch­en Stickereie­n zu sehen sind. Auf einem Tuch beziehungs­weise Hemd hat die Farbkombin­ation noch andere Bedeutunge­n: Trauer und Liebe, Tod und Leben. Ein solches Hemd wird meist von einer jungen Frau für ihren Geliebten oder von einer Mutter für ihre Kinder bestickt.

Meine Mama rufe ich mehrmals täglich an. Bei ihnen ist alles in Ordnung. Die Raketenein­schläge seien jetzt seltener zu hören. Auch meine beste Freundin ruft mich ab und zu an. Sie arbeitet in einem Labor, das organische­n Dünger produziert. Die Natur fragt nicht nach dem Krieg. Die Aussaat beginnt. Es muss auch in diesem Jahr Weizen geben.

Daryna Melashenko,

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26 Jahre, ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.

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