Digitaler Freiheitskämpfer aus Kiew
Müde, aber entschlossen, voll Kampfbereitschaft und rhetorisch geschickt: So inszeniert sich der ukrainische Präsident Selenskyj in seinen Live-Videobotschaften in Parlamenten in aller Welt. Für das Auditorium gibt es Zuckerbrot und Peitsche.
Der schlichte, braune Bürosessel ist immer derselbe, die Nationalfahne ist manchmal größer, dann wieder kleiner im Bild. Und Wolodymyr Selenskyj, der mittlerweile barttragende Präsident der Ukraine, trägt schnörkellose Hemden oder enge T-Shirts in schmutzigem Grün, im Fachjargon als „NATO-Oliv“bekannt. Mit dieser Form der visuellen Selbstinszenierung ist Selenskyj mittlerweile in vielen Parlamenten der Welt zugeschaltet gewesen, der 44-Jährige hat damit eine prägnante Marke aufgebaut. „Er bespielt mit seinen Livevideos die moderne Medienwelt unglaublich gut, hat binnen kurzer Zeit eine ikonografische Figur geschaffen“, sagt der Kommunikationswissenschafter und Politikberater Thomas Hofer.
Ein Präsident als virtueller Gast – egal ob im japanischen Parlament, in der französischen Nationalversammlung, im Europaparlament, im britischen Unterhaus, vor dem US-Kongress oder in der israelischen Knesset: Unermüdlich wirbt Selenskyj rund um den Erdball um Unterstützung für sein Land, dankt für Sanktionsmaßnahmen gegen den Aggressor Russland, fügt aber in seinen pointierten und auf das jeweilige Land exakt abgestimmten Reden hinzu, dass dies allein keine
Garantie für Frieden sei. Der ukrainische Präsident verfolgt eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie, lässt seinem Dank meist auch Kritik, Tadel und Forderungen folgen, von denen er selbst weiß (zum Beispiel Flugverbotszone über der Ukraine), dass sie nicht erfüllt werden können.
Wolodymyr Selenskyj entwirft in freier Rede und klarer Artikulation insbesondere in europäischen Parlamenten ein Szenario, wonach nach der Ukraine auch andere Länder von einem Angriff Russlands betroffen sein könnten. Durch gezielte Anspielungen appelliert er auch an das schlechte Gewissen seines Gegenübers, verknüpft rhetorisches Geschick mit politischem Kalkül. Der Zweck soll die Mittel heiligen. „Indem er den Abgeordneten die Domino-Theorie mitliefert, baut er im Westen politischen Druck auf. Das ist sehr geschickt gemacht“, analysiert Hofer und spricht von „targeted messages“– zielgruppenorientierten Botschaften.
Sein Gesicht ist ernst, entschlossen, Selenskyj wirkt müde, von der Last des Krieges gezeichnet, aber unbeugsam. Dass er kein geschöntes, idealisiertes Bild von sich vermitteln will, ist Teil der professionellen Inszenierung. Der Politiker, der zuvor in der Showbranche tätig war und in der satirischen TV-Serie „Diener des Volkes“in die Rolle des ukrainischen Präsidenten geschlüpft war, setzt auf Authentizität, auf Hemdsärmeligkeit. Quasi als „Mann von der Front“schürt er in den hehren Versammlungsplätzen der westlichen Demokratien Emotionen. „Dabei kann ihm bisweilen auch etwas entgleiten, etwa als er in Israel die russische Invasion in Beziehung zum Holocaust gesetzt hat“, betont Thomas Hofer. „Generell ist er aber vor jedem Auftritt von seinem Team gut gebrieft und kann so das Maximum herausholen.“
Selenskyj zitiert den Ex-US-Präsidenten Ronald Reagan, suggeriert Zusammenhalt („Ich spüre, dass wir geeint sind“), zeigt keine Berührungsängste vor Pathos („Jeder Quadratzentimeter unseres Landes wird in Zukunft Freiheitsplatz genannt werden können“) und legt den westlichen Politikern mit quasikatholischen Metaphern die Latte hoch: „Beweisen Sie, dass Sie uns nicht im Stich lassen, dass Sie wirklich Europäer sind. Dann wird das Leben über den Tod gewinnen, das Licht über die Dunkelheit.“Am Ende seiner Videobotschaften sagt der Präsident meist „Es lebe die Ukraine“beziehungsweise „Ehre der Ukraine“. Standing Ovations vor und nach Selenskyjs Ansprachen durch die jeweiligen Parlamentarier sind fixer Bestandteil dieses neuen Inszenierungsrituals geworden.
Dass Selenskyj den Kampf der Bilder im Vergleich zu seinem russischen Kontrahenten Wladimir Putin gewonnen habe, ist publizistisches Allgemeingut. Seine Sprüche wie „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“zieren TShirts, nach einem Monat Krieg ist der 44-Jährige auf dem Weg zu einem Popstar-Image, nicht nur auf Social Media. Was Nachahmer hervorruft, erst kürzlich zeigte sich der französische Präsident Emmanuel Macron mit Hoodie und Dreitagesbart. Muss die auf Slim-Fit-Anzüge fixierte Politikergeneration umdenken? „Wer Selenskyj imitieren will, muss aufpassen“, betont Kommunikationsexperte Hofer: „Man ist – glücklicherweise – nicht in derselben Lage wie er, eine plumpe Kopie könnte anmaßend rüberkommen.“
„Selenskyj zu imitieren wäre riskant.“