Füßen Mit getreten
Krieg und Terror, Gewalt und Unterdrückung, Zensur und Demonstrationsverbot. Wie die Menschenrechte mit Füßen getreten werden und warum sie für uns so selbstverständlich sind.
Vor nicht allzu langer Zeit stand ich bei einem Menschenrechtsprogramm an der Universität Wien mit Heba, einer Palästinenserin, am Fenster eines Seminarraums. Wir blickten hinüber zum Schottenring mit seinem Menschengewimmel: „Heba“, klagte der Journalist aus dem Westen, „why do people down there know so little about human rights?“– Wieso wissen der Mann, die Frau auf der Straße so wenig über Menschenrechte? Die Kollegin mit ihren vielleicht 23 Jahren war schon so viel weiser: „Don’t you understand, Michael“, antwortete sie (frei übersetzt etwa: „Verstehst du’s nicht, Dummerchen?“), „because they have them“– „weil sie sie haben“. . .
Was ist es, das wir für so selbstverständlich halten, in einem demokratischen Staat in Europa? Es sind die Werte der „Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“, verbrieft in der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“. Als solche sind sie einklagbar vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof – vom einzelnen Bürger, der einzelnen Bürgerin. Bekräftigt werden z. B. die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit.
Um „die Freiheit“wird derzeit auf diversen Demonstrationen viel gebangt, wobei sehr oft nur „meine Freiheit“gemeint ist. Aber sind nicht gerade die Protestaktionen selber der stärkste Beweis, dass die politischen Rechte in Österreich eben keineswegs abgeschafft sind? Außerdem: Der Vergleich macht sicher, zum Beispiel der mit China. Die „Volksrepublik“hat etwa im ICCPR (dem „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“, einer „Bibel“der Menschenrechte) und in anderen Verträgen niemals das Recht auf individuelle Beschwerden akzeptiert. Während der Pandemie konnten Bewohner umgehend ihrer Häuser verwiesen und in QuarantäneStätten geschickt werden; die Null-Covid-Politik wurde „ohne Rücksicht auf die Kosten für persönliche Freiheit und Wirtschaft“durchgesetzt, resümiert der BBC-Korrespondent; vor den Olympischen Spielen wurden Anwälte und Menschenrechtsaktivisten wegen „Anstiftung zum Umsturz“festgenommen, meldete die überaus kompetente Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
In Österreich hingegen hob der Verfassungsgerichtshof z. B. die Verordnung der Stadt Graz mit einem Betretungsverbot für Spielplätze als gesetzwidrig auf, ebenso das Limit für die Besucherzahl bei Begräbnissen – übrigens nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention („Achtung des Familien- und Privatlebens“). Gewiss, auch in Österreich neigten bei der Bekämpfung der Coronapandemie Politik und Bürokratie dazu, ihre Macht zu überdehnen. Aber die Höchstrichter verwiesen sie zurück in den Käfig der Regeln: Sie stellten z. B. klar, dass der Gesundheitsminister de facto ein Ausgangsverbot verhängt und damit seine eigenen Freiheiten überzogen hatte. Das ist ein Hauptgrund, an die Menschenrechte zu glauben: Sofern die Institutionen funktionieren, wird ihre Einhaltung überwacht und kann eingeklagt werden.
Wenn ein solches Wertesystem also auf das Gute im Menschen (und zumal im internationalen Recht) verweist, müssen wir uns der nächsten Frage auch stellen – wie (nicht „zum Teufel“, sondern „bitte“) setzen wir es durch? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg z. B. eröffnet den Bürgerinnen und Bürgern von heute Zugänge, die unseren Vorfahren völlig unbekannt waren: Erstmals können sie den eigenen Staat vor ein derartiges Tribunal bringen.
Freilich gilt: Das Gute hat keine eigene Polizei, oder zumindest keine gut ausgerüstete. Unter dem Schirm der Vereinten Nationen etwa wurden Konventionen zum Schutz von Frauen, Kindern oder Folteropfern geboren. Nur verfügt die UNO über kein eigenes Militär, um sie auch durchzusetzen. Sie konnte nicht einmal Massengräuel wie den Völkermord in Ruanda mit 800.000 Toten oder das Massaker an Bosniaken in Srebrenica unter der Zeugenschaft hilfloser „Blauhelme“abwenden. Die Scham war danach zwar groß genug, um eine gemeinsame „Schutzpflicht“zu verankern: Wenn ein Staat nicht in der Lage war, die eigene Bevölkerung vor systematischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewahren, konnte selbst eine Militärintervention der internationalen Gemeinschaft erlaubt werden. Bedingung ist aber ein Ja des Sicherheitsrats, und der ist durch Vetos der Großmächte oft gelähmt.
Die Tragödie von Syrien hat vor Augen geführt, wie ohnmächtig der humanitäre Zorn bleibt, wenn eine Großmacht – in dem Fall Russland – Strafen gegen ein Regime sabotiert. Das Konzept der R2P („responsibility to protect“, „Schutzverantwortung“) gilt in Fachkreisen heute als tot, so zwingend es politisch und so berechtigt es moralisch auch erscheint. Gleichzeitig liefert uns dieser Fall eine bittere Lehre vor die Haustür: Dass menschenrechtlich der höchste Preis dann zu zahlen ist, wenn die „Guten“in der Zuschauerrolle bleiben. Sie möchten ihren eigenen Wählern kein Engagement in Brandherden zumuten. In Kauf genommen wird dann das Elend der syrischen Rebellenhochburg Daraa, wo sich der demokratische Aufstand einst erhoben hatte: Nach Recherchen von Amnesty International darbten dort während der Belagerung durch die Assad-Truppen 20.000 Menschen fast ohne Nahrung und medizinische Versorgung.
Doch diese Idee von den universellen, also weltweit gültigen Rechten – entstammt die letztlich nicht westlichem Hochmut und ist damit schlicht nicht exportfähig? Fakt ist: Die „Geburtsurkunde“, die „Universal Declaration of Human Rights“, wurde von der UNO proklamiert; Vertreter aus Staaten wie Pakistan oder Saudi-Arabien drängten damals sogar auf mehr Mut. Aber abgesehen davon – was ist von dem Argument zu halten, etwas müsse verworfen werden, weil es aus einer anderen Weltregion stamme? Kündet es nicht von „Rassismus vice versa“?
Sachlich ist es jedenfalls falsch. Auf dem Kyros-Zylinder, einer Art Röhre aus gebranntem Ton aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus, hinterlassen von einem altpersischen König nach der Eroberung von Babylon, waren in Keilschrift diese Erlässe eingeschrieben: die Befreiung der Sklaven, das Recht auf Wahl der eigenen Religion und die Gleichheit der Rassen. Gefunden wurde diese erste GrundrechteCharta im Zweistromland, im heutigen Irak.
In dem Masterprogramm „Human Rights“an der Universität Wien kam natürlich auch die Frage nach den religiösen Zügen der Menschenrechte auf. Meine Antwort war: „Nein, sie sind keineswegs eine Religion – sie sind die Möglichkeit, an ein Wertesystem zu glauben, ohne religiös sein zu müssen.“Der Vortragende, ein Rechtsphilosoph, wirkte erstaunt.