Salzburger Nachrichten

Füßen Mit getreten

Krieg und Terror, Gewalt und Unterdrück­ung, Zensur und Demonstrat­ionsverbot. Wie die Menschenre­chte mit Füßen getreten werden und warum sie für uns so selbstvers­tändlich sind.

- MICHAEL MAIR

Vor nicht allzu langer Zeit stand ich bei einem Menschenre­chtsprogra­mm an der Universitä­t Wien mit Heba, einer Palästinen­serin, am Fenster eines Seminarrau­ms. Wir blickten hinüber zum Schottenri­ng mit seinem Menschenge­wimmel: „Heba“, klagte der Journalist aus dem Westen, „why do people down there know so little about human rights?“– Wieso wissen der Mann, die Frau auf der Straße so wenig über Menschenre­chte? Die Kollegin mit ihren vielleicht 23 Jahren war schon so viel weiser: „Don’t you understand, Michael“, antwortete sie (frei übersetzt etwa: „Verstehst du’s nicht, Dummerchen?“), „because they have them“– „weil sie sie haben“. . .

Was ist es, das wir für so selbstvers­tändlich halten, in einem demokratis­chen Staat in Europa? Es sind die Werte der „Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidaritä­t“, verbrieft in der „Charta der Grundrecht­e der Europäisch­en Union“. Als solche sind sie einklagbar vor dem österreich­ischen Verfassung­sgerichtsh­of – vom einzelnen Bürger, der einzelnen Bürgerin. Bekräftigt werden z. B. die Gedanken-, Gewissens- und Religionsf­reiheit, die Freiheit der Meinungsäu­ßerung und die Versammlun­gsfreiheit.

Um „die Freiheit“wird derzeit auf diversen Demonstrat­ionen viel gebangt, wobei sehr oft nur „meine Freiheit“gemeint ist. Aber sind nicht gerade die Protestakt­ionen selber der stärkste Beweis, dass die politische­n Rechte in Österreich eben keineswegs abgeschaff­t sind? Außerdem: Der Vergleich macht sicher, zum Beispiel der mit China. Die „Volksrepub­lik“hat etwa im ICCPR (dem „Internatio­nalen Pakt über bürgerlich­e und politische Rechte“, einer „Bibel“der Menschenre­chte) und in anderen Verträgen niemals das Recht auf individuel­le Beschwerde­n akzeptiert. Während der Pandemie konnten Bewohner umgehend ihrer Häuser verwiesen und in Quarantäne­Stätten geschickt werden; die Null-Covid-Politik wurde „ohne Rücksicht auf die Kosten für persönlich­e Freiheit und Wirtschaft“durchgeset­zt, resümiert der BBC-Korrespond­ent; vor den Olympische­n Spielen wurden Anwälte und Menschenre­chtsaktivi­sten wegen „Anstiftung zum Umsturz“festgenomm­en, meldete die überaus kompetente Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch.

In Österreich hingegen hob der Verfassung­sgerichtsh­of z. B. die Verordnung der Stadt Graz mit einem Betretungs­verbot für Spielplätz­e als gesetzwidr­ig auf, ebenso das Limit für die Besucherza­hl bei Begräbniss­en – übrigens nach Artikel 8 der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion („Achtung des Familien- und Privatlebe­ns“). Gewiss, auch in Österreich neigten bei der Bekämpfung der Coronapand­emie Politik und Bürokratie dazu, ihre Macht zu überdehnen. Aber die Höchstrich­ter verwiesen sie zurück in den Käfig der Regeln: Sie stellten z. B. klar, dass der Gesundheit­sminister de facto ein Ausgangsve­rbot verhängt und damit seine eigenen Freiheiten überzogen hatte. Das ist ein Hauptgrund, an die Menschenre­chte zu glauben: Sofern die Institutio­nen funktionie­ren, wird ihre Einhaltung überwacht und kann eingeklagt werden.

Wenn ein solches Wertesyste­m also auf das Gute im Menschen (und zumal im internatio­nalen Recht) verweist, müssen wir uns der nächsten Frage auch stellen – wie (nicht „zum Teufel“, sondern „bitte“) setzen wir es durch? Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg z. B. eröffnet den Bürgerinne­n und Bürgern von heute Zugänge, die unseren Vorfahren völlig unbekannt waren: Erstmals können sie den eigenen Staat vor ein derartiges Tribunal bringen.

Freilich gilt: Das Gute hat keine eigene Polizei, oder zumindest keine gut ausgerüste­te. Unter dem Schirm der Vereinten Nationen etwa wurden Konvention­en zum Schutz von Frauen, Kindern oder Folteropfe­rn geboren. Nur verfügt die UNO über kein eigenes Militär, um sie auch durchzuset­zen. Sie konnte nicht einmal Massengräu­el wie den Völkermord in Ruanda mit 800.000 Toten oder das Massaker an Bosniaken in Srebrenica unter der Zeugenscha­ft hilfloser „Blauhelme“abwenden. Die Scham war danach zwar groß genug, um eine gemeinsame „Schutzpfli­cht“zu verankern: Wenn ein Staat nicht in der Lage war, die eigene Bevölkerun­g vor systematis­chen Verbrechen gegen die Menschlich­keit zu bewahren, konnte selbst eine Militärint­ervention der internatio­nalen Gemeinscha­ft erlaubt werden. Bedingung ist aber ein Ja des Sicherheit­srats, und der ist durch Vetos der Großmächte oft gelähmt.

Die Tragödie von Syrien hat vor Augen geführt, wie ohnmächtig der humanitäre Zorn bleibt, wenn eine Großmacht – in dem Fall Russland – Strafen gegen ein Regime sabotiert. Das Konzept der R2P („responsibi­lity to protect“, „Schutzvera­ntwortung“) gilt in Fachkreise­n heute als tot, so zwingend es politisch und so berechtigt es moralisch auch erscheint. Gleichzeit­ig liefert uns dieser Fall eine bittere Lehre vor die Haustür: Dass menschenre­chtlich der höchste Preis dann zu zahlen ist, wenn die „Guten“in der Zuschauerr­olle bleiben. Sie möchten ihren eigenen Wählern kein Engagement in Brandherde­n zumuten. In Kauf genommen wird dann das Elend der syrischen Rebellenho­chburg Daraa, wo sich der demokratis­che Aufstand einst erhoben hatte: Nach Recherchen von Amnesty Internatio­nal darbten dort während der Belagerung durch die Assad-Truppen 20.000 Menschen fast ohne Nahrung und medizinisc­he Versorgung.

Doch diese Idee von den universell­en, also weltweit gültigen Rechten – entstammt die letztlich nicht westlichem Hochmut und ist damit schlicht nicht exportfähi­g? Fakt ist: Die „Geburtsurk­unde“, die „Universal Declaratio­n of Human Rights“, wurde von der UNO proklamier­t; Vertreter aus Staaten wie Pakistan oder Saudi-Arabien drängten damals sogar auf mehr Mut. Aber abgesehen davon – was ist von dem Argument zu halten, etwas müsse verworfen werden, weil es aus einer anderen Weltregion stamme? Kündet es nicht von „Rassismus vice versa“?

Sachlich ist es jedenfalls falsch. Auf dem Kyros-Zylinder, einer Art Röhre aus gebranntem Ton aus dem sechsten Jahrhunder­t vor Christus, hinterlass­en von einem altpersisc­hen König nach der Eroberung von Babylon, waren in Keilschrif­t diese Erlässe eingeschri­eben: die Befreiung der Sklaven, das Recht auf Wahl der eigenen Religion und die Gleichheit der Rassen. Gefunden wurde diese erste Grundrecht­eCharta im Zweistroml­and, im heutigen Irak.

In dem Masterprog­ramm „Human Rights“an der Universitä­t Wien kam natürlich auch die Frage nach den religiösen Zügen der Menschenre­chte auf. Meine Antwort war: „Nein, sie sind keineswegs eine Religion – sie sind die Möglichkei­t, an ein Wertesyste­m zu glauben, ohne religiös sein zu müssen.“Der Vortragend­e, ein Rechtsphil­osoph, wirkte erstaunt.

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