Psychologin fordert Umdenken beim Umgang mit Senioren
Die Stadt schließt Seniorenhäuser. Der Pflegemangel mache klar, dass unser Gesundheitssystem Grenzen habe, sagt Psychologin Barbara Juen. Sie befragte das Personal der städtischen Heime.
Der Personalmangel in Seniorenwohnheimen zwingt die Pflegekräfte dazu, Abstriche bei der Versorgung der Bewohner zu machen. Dieser Faktor verursache beim Personal den größten Stress, sagt Barbara Juen (62), Psychologieprofessorin an der Universität Innsbruck und Leiterin des psychosozialen Dienstes des Roten Kreuzes.
Das war das Ergebnis einer Untersuchung in mehreren Ländern der EU, bei der auch die Mitarbeiter der städtischen Seniorenwohnhäuser von Salzburg befragt wurden. Ziel war es, die Auswirkungen der Pandemie auf das Pflegepersonal zu untersuchen. Die Befragungen liefern auch Erklärungen, warum sich die Stadt
Salzburg nun genötigt fühlt, Seniorenwohnhäuser aus Personalmangel zu schließen.
Im Vergleich zu Spitalskräften sei das Personal in Seniorenheimen in der Pandemie teils noch größerem Druck ausgesetzt, sagt Juen. „Denn dort ist die Personalsituation noch angespannter.“Die dünne Personaldecke verursache auch den meisten Stress für die Pflegekräfte, sagt die Psychologin. „Sie leiden an moralischen Stressoren: Wenn ich etwa in meinem Job Dinge tun muss, die nicht mit meiner Überzeugung von guter Arbeit vereinbar sind.“Und je weniger Personal vorhanden sei, desto öfter gerate man in solche Situationen.
So gesehen sei auch der Schritt der Stadt verständlich, im Pflegebereich die Kräfte zu bündeln, um eine höhere Qualität in der Versorgung aufrechtzuerhalten. Juen gibt aber auch zu bedenken, dass eine Umsiedlung ein großer Stress für die Bewohner sei. „Besonders dementiell erkrankte Personen vertragen Veränderungen ganz schlecht.“Das habe sich auch bei den Einschränkungen in den Seniorenheimen durch die Pandemie gezeigt.
Die Befragungen ergaben auch, dass die Zufriedenheit des Personals sehr stark mit dem Wohlergehen der Patienten zusammenhängt. In Häusern, in denen es nur noch darum ging, Ansteckungen zu verhindern, hätten Personal und Bewohner besonders darunter gelitten. „Viele haben einen Mittelweg gefunden,
Bewohner vor Erkrankungen zu schützen und Aktivitäten zu ermöglichen. Die Häuser der Stadt Salzburg haben das im internationalen Vergleich gut geschafft.“
Die Pandemie brachte den Pflegemangel schneller ans Licht. „Wir haben damit gerechnet, dass man die Auswirkungen in dieser Deutlichkeit erst in fünf Jahren sieht. Jetzt ist es eben etwas früher aufgetreten. Überraschend ist das natürlich nicht. Wir wissen das seit Jahren, aber es hat keiner zugehört. Erst wenn das System zusammenbricht, interessiert es jemanden.“
In Salzburg haben Barbara Juen und ihr Team gemeinsam mit den städtischen Seniorenwohnheimen Lösungen für die Probleme erarbeitet. So habe man ein kollegiales Hilfssystem aufgebaut. „Das gibt es auch im Einsatzdienst und beim Militär: So kann niederschwellig schnell Hilfe angeboten werden.“Eine weitere Maßnahme sei es, den Mitarbeitern trotz allem möglichst viele Gestaltungsmöglichkeiten in der Arbeit zu lassen und die Vorgesetzten entsprechend zu schulen. „In den Häusern in Salzburg funktioniert das sehr gut.“
Das löse trotzdem das Grundproblem nicht, sagt Psychologin Barbara Juen. „Es ist, wie wenn man an einem Fluss steht und ständig Menschen aus dem Wasser retten muss. Das hilft zwar in dem Moment. Aber irgendwann muss ich fragen: Warum fallen da ständig Leute in den Fluss?“
Barbara Juen fordert ein Umdenken, was den Umgang mit älteren Personen betrifft. In Österreich würden diese viel zu schnell als pflegebedürftig abgekanzelt. Das hänge auch damit zusammen, dass man sich zu lange der Illusion hingegeben habe, dass das Gesundheitssystem nicht an die Grenzen geraten könne. „Diese Illusion hat uns die Pandemie genommen.“
In anderen Ländern, in denen es in dem Bereich knappere Ressourcen gebe, habe man in Krisen eine höhere Resilienz. Dort würden ältere Menschen auch ganz anders in die Bewältigung der Krisen eingebunden. „Bei uns werden diese einfach als vulnerable Gruppe bezeichnet. Niemand kommt auf die Idee, diese Personen auch einzubinden.“
In Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, wo es eine starke Landflucht gibt, sei das ganz anders. „Da gibt es Dörfer, da ist der jüngste Bewohner 65 Jahre alt. Wenn es dort zu einem Hochwasser kommt, müssen diese Menschen dann helfen, und man stellt fest: Die sind oft superfit.“
„Wir wissen seit Jahren von den Problemen, aber keiner hat zugehört.“