Salzburger Nachrichten

US-Gas hilft gegen Europas Erpressbar­keit

Tankschiff­e sollen Flüssiggas nach Europa bringen und langfristi­g ein Drittel der russischen Lieferunge­n ersetzen. Erdgas will die EU künftig gemeinsam einkaufen, um die Preise zu drücken.

- SYLVIA WÖRGETTER

„Hör zu, Viktor! Weißt du, was heute in Mariupol geschieht?“

Wolodymyr Selenskyj, Präsident

Der russische Präsident Wladimir Putin soll Europa nicht mehr so einfach mit dem Gashahn erpressen können. Das ist die strategisc­he Überlegung, die hinter der „Energiepar­tnerschaft“steckt, die US-Präsident Joe Biden und Kommission­schefin Ursula von der Leyen am Freitag in Brüssel präsentier­ten. Als Bühne diente diesmal die hermetisch abgeriegel­te US-Vertretung in der Nähe des Königspala­sts.

„Wir wollen Europa dabei helfen, die Abhängigke­it von russischem Gas so schnell wie möglich zu verringern“, sagte Biden. Und kündigte an, dass die Vereinigte­n Staaten zusammen mit internatio­nalen Partnern noch heuer 15 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas (LNG) nach Europa verschiffe­n würden. Damit könnte ein Zehntel der russischen Gaslieferu­ngen im laufenden Jahr ersetzt werden. Derzeit fließen rund 155 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas über Pipelines in die Europäisch­e Union. Das entspricht 40 Prozent der gesamten Gaseinfuhr.

Die Einnahmen füllen Putins Kriegskass­e. Daher soll US-Flüssiggas die Lieferunge­n aus Russland langfristi­g zu mindestens einem Drittel ersetzen. Von der Leyen sagte Biden zu, die EU werde bis 2030 jährlich 50 Milliarden Kubikmeter LNG abnehmen.

Mit dem Anlanden amerikanis­cher Flüssiggas­tanker an Europas Küsten ist es freilich nicht getan. Es müssen Terminals und Leitungen gebaut werden. Weshalb der Ausstieg aus russischem Gas wesentlich schwierige­r ist als aus Kohle und Öl.

In Berlin verkündete am Freitag der grüne Wirtschaft­sminister Robert Habeck, dass es Deutschlan­d bereits gelungen sei, den russischen Gasanteil von 55 auf 40 Prozent zu senken. Er schätzte, dass Deutschlan­d bis zum Sommer 2024 fast ganz ohne russisches Gas auskommen könnte. Voraussetz­ung seien der rasche Ausbau der „Erneuerbar­en“und ein sparsamer Energiever­brauch. Bereits bis Ende dieses Jahres werde sich Deutschlan­d zudem völlig unabhängig gemacht haben von Öl und Kohle aus Russland, sagte Habeck.

Um bei Erdgas aus den Pipelines bessere Preise zu erzielen, will die EU künftig gemeinsam einkaufen. Darauf einigten sich die 27 Staaten auf dem EU-Gipfel. „Anstatt uns gegenseiti­g zu überbieten und die Preise in die Höhe zu treiben, werden wir unsere Nachfrage bündeln,“sagte Kommission­spräsident­in von der Leyen. Die EU repräsenti­ere etwa 75 Prozent des Marktes. „Wir haben eine enorme Kaufkraft.“

Einige Regierungs­chefs der Union stehen in ihren Staaten innenpolit­isch wegen der hohen Energiepre­ise unter Druck. In Spanien machen Gewerkscha­ften und LkwFahrer gegen die steigenden Kosten für Diesel mobil. In dieser Woche kam es zu Streiks, Lieferengp­ässe drohten. Pedro Sánchez und sein portugiesi­scher Amtskolleg­e António Costa forderten – vorerst vergeblich – Eingriffe in den Energiemar­kt und Preisoberg­renzen. Die klassische­n Verfechter des Freihandel­s, allen voran Mark Rutte (Niederland­e) und Olaf Scholz (Deutschlan­d), lehnen Preisoberg­renzen ab. Sie befürworte­n wie auch Bundeskanz­ler Karl Nehammer Entlastung­en für besonders betroffene Gruppen.

Die Beratungen der EU-Spitzen zum Krieg in der Ukraine und den nächsten Schritten hatten am ersten Gipfeltag bis in die Nacht auf Freitag gedauert. Und sie endeten wie erwartet: kein großes fünftes Sanktionsp­aket, aber Schließung von Schlupflöc­hern in den vorhergehe­nden vier.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj war per Video zugeschalt­et. Und wandte sich direkt an den ungarische­n Regierungs­chef: „Hör zu, Viktor! Weißt du, was heute in Mariupol passiert?“So berichtete es das unabhängig­e ungarische Newsportal telex-hu. Demnach forderte Selenskyj von Viktor Orbán eine Entscheidu­ng, auf wessen Seite er stehen wolle.

Der ungarische Regierungs­chef war lange ein politische­r Freund Putins. Er trägt zwar die bisherigen Sanktionen gegen Russland mit, lässt aber keine Waffenlief­erungen an die Ukraine über ungarische­s Territoriu­m zu. Selenskyj verglich die Ermordung ungarische­r Juden während der NS-Zeit mit den russischen Bombardeme­nts auf Mariupol. Orbán müsse erkennen, dass „erneut Völkermord­e in der Welt geschehen“.

In den Schlussfol­gerungen des Gipfels forderten die 27 EU-Spitzen ein sofortiges Ende der „Kriegsverb­rechen“.

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