„Könnte der letzte Appell sein“
Die russische Offensive im Osten der Ukraine läuft. Im belagerten Mariupol scheitern erneut Evakuierungsversuche. Die letzten Verteidiger senden eine dramatische Bitte in die Welt.
Russland setzt seine Luftangriffe in der Ukraine unvermindert fort und bietet dem angegriffenen Nachbarland zugleich schriftlich neue Verhandlungen an. „Jetzt wurde der ukrainischen Seite unser Entwurf des Dokuments übergeben, der absolut klare und ausgefeilte Formulierungen beinhaltet“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. Die Vorschläge seien bereits am vergangenen Freitag übermittelt worden.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte jedoch, dass er keine konkretes Verhandlungsangebot aus Moskau erhalten habe. „Ich hab nichts gehört, ich hab nichts gesehen. Bin überzeugt, dass sie uns nichts übergeben haben“, sagte der Staatschef am Mittwoch.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs blieben russische Versuche erfolglos, die Städte Rubischne und Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk zu stürmen. Gefechte habe es zudem um Marjinka, Popasna, Torske, Selena Dolyna und Kreminna gegeben. Russlands Streitkräfte beschossen nach eigenen Angaben 1053 Militärobjekte. Von unabhängiger Seite konnten diese Angaben nicht bestätigt werden.
Unterdessen bat der Kommandeur der verbliebenen Marineinfanteristen in der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol um Evakuierung in einen Drittstaat. Er deutete damit auch an, aufgeben zu wollen. Bisher hatten die Ukrainer dies abgelehnt. „Der Feind ist uns 10 zu 1 überlegen“, sagte Serhij Wolyna, Kommandeur der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade, in einer am frühen Mittwochmorgen auf Facebook veröffentlichten einminütigen Videobotschaft. Die ukrainische Seite verteidige nur ein Objekt, das Stahlwerk Asowstal, wo sich außer Militärs noch Zivilisten befänden. Der Kommandeur bat, das Militär der Mariupol-Garnison, mehr als 500 verwundete Kämpfer sowie Hunderte Zivilisten in einem Drittland in Sicherheit zu bringen. „Das ist unser Appell an die Welt“, sagte Wolyna. „Das könnte der letzte Appell unseres Lebens sein.“
Die südostukrainische Hafenstadt Mariupol wurde am 1. März kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs komplett von russischen Truppen eingeschlossen. In der Stadt sollen sich noch rund 100.000 Menschen aufhalten. Eine Rettung von Zivilisten ist am Mittwoch nach ukrainischen Regierungsangaben erneut gescheitert. „Leider hat der humanitäre Korridor aus Mariupol heute nicht wie geplant funktioniert“, teilte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk auf Telegram mit. Es habe keine Waffenruhe gegeben. Am Donnerstag solle es einen neuen Versuch geben.
Am Mittwochabend wurde bekannt, dass in Mariupol auch eine 91-jährige Überlebende des Holocaust
gestorben ist. „Mit zehn Jahren überlebte Wanda Semjonowa Objedkowa die Deutschen, indem sie sich in einem Keller in Mariupol versteckte. 81 Jahre später starb sie in einem Keller in der gleichen Stadt, als sie sich infolge des fürchterlichen Kriegs vor den Russen versteckte“, teilte das Auschwitz Museum auf seinem Twitter-Kanal mit.
Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine seit Beginn des Krieges am 24. Februar hat insgesamt bereits die Marke von fünf Millionen überschritten. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Genf nannte am Mittwoch 5.034.439 Menschen, die die Grenzen in die Nachbarländer überquert haben sollen. Der Großteil – 2,8 Millionen – flüchtete zuerst nach Polen. Nach UNHCR-Angaben haben in den vergangenen acht Wochen auch fast 550.000 Menschen aus der Ukraine die Grenze nach Russland überquert. Die Ukraine bezeichnet sie als Verschleppte, die gegen ihren Willen deportiert wurden.
550.000 Menschen verschleppt?