Salzburger Nachrichten

Ein magischer Moment im Pulverturm

Beim Klavierspi­elen rast meine rechte Hand, die linke ist langsamer. Meine Gefühle sind wie meine linke Hand. Sie kommen später.

- Daryna Melashenko, 26 Jahre, ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.

Ich sitze im Pulverturm und arbeite an meinen Übersetzun­gen. Der Pulverturm ist ein großes historisch­es Gebäude im Lemberger Zentrum. Der Turm ist über 400 Jahre alt und gehört schon seit Jahrzehnte­n dem Lemberger Architekte­nverband. Zu friedliche­n Zeiten werden hier Vorstandss­itzungen des Architekte­nverbands abgehalten. Heute gehört der Raum dem Koordinati­onsbüro der Tarnnetzfl­echterinne­n.

Ein Tarnnetz sieht wie ein Riesenspin­ngewebe in Laubfarben aus. Man braucht die Netze im Krieg, um sich camouflier­en zu können. Für unterschie­dliche Regionen gibt es auch unterschie­dliche Farben, die der Landschaft­spalette entspreche­n. Menschen kommen hierher, um zu helfen. Jede halbe Stunde gibt es ein paar neue Gesichter zu sehen.

Der Turm ist dreistöcki­g. Im dritten Stock steht ein Flügel. Dieser Stock ist ein Konzertsaa­l mit einer Bühne, auf der ich mit meinem Laptop gemütlich sitze. Ab und zu unterbrech­e ich meine Arbeit, um Klavier zu spielen.

Mir fallen die Übungen ein, die ich vor einem halben Jahr lernte, als ich mir ein E-Piano gekauft hatte. Es fiel mir immer schwer, die linke Hand mit der rechten zu synchronis­ieren. Sie haben unterschie­dliche Tempi. Die rechte Hand rast fort, die linke verspätet sich immer ein bisschen.

Meine Gefühle sind wie meine linke Hand. Sie schaffen es nicht, mit meinem schnellen Verstand mitzuhalte­n. Sie kommen fast immer spät nach den Ereignisse­n, die sie hervorgeru­fen haben. Etwas Ähnliches habe ich einmal bei Nietzsche gelesen: „Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an allem, was er erlebt.“So ungefähr geht es auch mir.

Während ich arbeite, muss ich mit plötzliche­n Anfällen einer unfassbare­n Müdigkeit kämpfen. Das passiert jetzt öfters, wenn es zu Spannungen im Kriegsthea­ter kommt. Ich mache wieder eine kleine Pause am Klavier. Es gibt hier viele Tarnnetzfl­echterinne­n. Eine davon kommt zu mir und fragt: „Darf ich?“Ich nicke und stehe auf. Sie setzt sich hin und spielt zwei schöne Stücke. Ich begreife, dass Musik ihr Beruf ist. Es gibt einen Applaus von Freiwillig­en im Saal. Ich frage die Frau, ob sie das Lied „Jalowytsja“kennt. Es ist ein altes ukrainisch­es Volkslied mit einer fröhlichen Melodie. „Nein, ich kenne nicht viele Volksliede­r, ich bin Musiktheor­etikerin. Aber ich kann es aufschreib­en, wenn Sie einen Kuli haben.“

Ich singe und sehe, wie unter ihrer Hand auf einem Blatt Papier eine Notenschri­ft entsteht. Magisch. Wir versuchen, mein Singen und ihr Klavier zusammenzu­bringen. Bevor sie geht, schreibe ich ihr noch den Text auf. Ihn kann man freilich im Internet finden. Aber hier ist das Lied wie von selbst entstanden und steht mithilfe meiner neuen Freundin jetzt auf Papier. Ein Zeugnis dafür, dass wir alles Wichtige in uns selbst tragen.

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Notizen
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