Ein magischer Moment im Pulverturm
Beim Klavierspielen rast meine rechte Hand, die linke ist langsamer. Meine Gefühle sind wie meine linke Hand. Sie kommen später.
Ich sitze im Pulverturm und arbeite an meinen Übersetzungen. Der Pulverturm ist ein großes historisches Gebäude im Lemberger Zentrum. Der Turm ist über 400 Jahre alt und gehört schon seit Jahrzehnten dem Lemberger Architektenverband. Zu friedlichen Zeiten werden hier Vorstandssitzungen des Architektenverbands abgehalten. Heute gehört der Raum dem Koordinationsbüro der Tarnnetzflechterinnen.
Ein Tarnnetz sieht wie ein Riesenspinngewebe in Laubfarben aus. Man braucht die Netze im Krieg, um sich camouflieren zu können. Für unterschiedliche Regionen gibt es auch unterschiedliche Farben, die der Landschaftspalette entsprechen. Menschen kommen hierher, um zu helfen. Jede halbe Stunde gibt es ein paar neue Gesichter zu sehen.
Der Turm ist dreistöckig. Im dritten Stock steht ein Flügel. Dieser Stock ist ein Konzertsaal mit einer Bühne, auf der ich mit meinem Laptop gemütlich sitze. Ab und zu unterbreche ich meine Arbeit, um Klavier zu spielen.
Mir fallen die Übungen ein, die ich vor einem halben Jahr lernte, als ich mir ein E-Piano gekauft hatte. Es fiel mir immer schwer, die linke Hand mit der rechten zu synchronisieren. Sie haben unterschiedliche Tempi. Die rechte Hand rast fort, die linke verspätet sich immer ein bisschen.
Meine Gefühle sind wie meine linke Hand. Sie schaffen es nicht, mit meinem schnellen Verstand mitzuhalten. Sie kommen fast immer spät nach den Ereignissen, die sie hervorgerufen haben. Etwas Ähnliches habe ich einmal bei Nietzsche gelesen: „Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an allem, was er erlebt.“So ungefähr geht es auch mir.
Während ich arbeite, muss ich mit plötzlichen Anfällen einer unfassbaren Müdigkeit kämpfen. Das passiert jetzt öfters, wenn es zu Spannungen im Kriegstheater kommt. Ich mache wieder eine kleine Pause am Klavier. Es gibt hier viele Tarnnetzflechterinnen. Eine davon kommt zu mir und fragt: „Darf ich?“Ich nicke und stehe auf. Sie setzt sich hin und spielt zwei schöne Stücke. Ich begreife, dass Musik ihr Beruf ist. Es gibt einen Applaus von Freiwilligen im Saal. Ich frage die Frau, ob sie das Lied „Jalowytsja“kennt. Es ist ein altes ukrainisches Volkslied mit einer fröhlichen Melodie. „Nein, ich kenne nicht viele Volkslieder, ich bin Musiktheoretikerin. Aber ich kann es aufschreiben, wenn Sie einen Kuli haben.“
Ich singe und sehe, wie unter ihrer Hand auf einem Blatt Papier eine Notenschrift entsteht. Magisch. Wir versuchen, mein Singen und ihr Klavier zusammenzubringen. Bevor sie geht, schreibe ich ihr noch den Text auf. Ihn kann man freilich im Internet finden. Aber hier ist das Lied wie von selbst entstanden und steht mithilfe meiner neuen Freundin jetzt auf Papier. Ein Zeugnis dafür, dass wir alles Wichtige in uns selbst tragen.