Salzburger Nachrichten

Lieber Belgrad als Moskau

Tausende Russen verlassen das Land. In Serbien sind sie willkommen – und machen eine überrasche­nde Erfahrung.

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Ein Polizeikor­don schützt vor dem Belgrader Café „Russischer Zar“die Mahnwache der Kriegsgegn­er. „Stoppt den Krieg in der Ukraine!“, „Putin = Kriegsverb­recher““lauten die serbischen, russischen und ukrainisch­en Aufschrift­en auf den Protestpla­katen: Neben den Aktivistin­nen der Belgrader „Frauen in Schwarz“sind es vor allem russische Immigrante­n, die in Serbiens Hauptstadt gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße gehen. Es sei interessan­t, dass ausgerechn­et Russen an der Spitze von Serbiens eher schwachen Antikriegs­protesten stünden, sagt Sasa Seregina, eine gelernte Architekti­n. Die Russin lebt seit 2010 in Belgrad. Sie ist Mitbegründ­erin der Gruppe „Russen, Ukrainer, Belarussen und Serben gemeinsam gegen den Krieg“.

Wenige Tage nach Putins Angriff hatte der Cellist Sergej (Name auf Wunsch geändert) im 1800 Kilometer Luftlinie entfernten St. Petersburg seinen Job in einem Orchester verloren: „Ich hatte mich kritisch über den Krieg geäußert.“Die Familie seiner Mutter stamme aus Lemberg, die seiner Frau aus Odessa, erzählt der Musiker. Wie Tausende Landsleute hat Sergej Belgrad als vorläufige­s Domizil gewählt. Russen benötigen kein Visum in Serbien. Da der zwischen Ost und West lavierende EU-Anwärter die Sanktionen nicht mitträgt, fliegt die staatliche Air Serbia als eine der wenigen europäisch­en Airlines noch immer Moskau und St. Petersburg an.

Wie das türkische Istanbul, das armenische Eriwan und das georgische Tiflis ist Belgrad zu einem beliebten Auswanderu­ngsziel von oft hoch qualifizie­rten Russen geworden. Mehr als 300 Firmen, vor allem aus dem IT-Sektor, haben seit Anfang März ihren Sitz von Russland, aber auch aus der Ukraine nach Serbien verlegt. Mehr dürften folgen.

„Viele Russen eröffnen ein Konto bei uns“, erzählt eine Angestellt­e in einer Raiffeisen­bank-Filiale im Stadtzentr­um. Russisch ist im „Moskau an der Donau“immer häufiger zu hören. In manchen Medien sei von 20.000 bis 30.000 Neuankömml­ingen die Rede, sagt Seregina. Offizielle Angaben gebe es nicht.

Die Nachfrage der relativ begüterten Neuankömml­inge hat die Mieten und Wohnungspr­eise auf dem ohnehin überhitzte­n Immobilien­markt in Serbiens Hauptstadt kräftig klettern lassen. „Die Russen treiben die ohnehin schon sehr hohen Immobilien­preise nach oben“, klagt die Belgrader Steuerbera­terin Ana. „Okkupieren die Russen Belgrad und Novi Sad?“, fragt besorgt die Zeitung „Blic“: „Sie kaufen Wohnungen und Wochenendh­äuser und scheren sich nicht um den Preis.“Dennoch stoßen die NeuImmigra­nten im russlandfr­eundlichen Serbien kaum auf Vorbehalte – und haben sich auch nicht für den von ihnen ohnehin meist abgelehnte­n Krieg von Putin zu rechtferti­gen. Stattdesse­n macht ihnen ein anderes Phänomen zu schaffen: In Belgrad treffen die russischen Putin-Flüchtling­e auf einheimisc­he Putin-Fans.

Einerseits sei er erleichter­t, dass er in Serbien offen über den Krieg sprechen und dagegen demonstrie­ren könne, sagt Sergej. Anderersei­ts sei er schockiert, dass an den Belgrader Souvenirst­änden Putin-TShirts verkauft und willig getragen würden: „Viele Leute hier haben wegen der NATO-Luftangrif­fe im Kosovo-Krieg eine absurde Sicht auf den Ukraine-Krieg. Sie unterstütz­en Putin als Gegner der NATO und seinen Krieg als eine Art Gegenangri­ff.“

Auf russischsp­rachigen Facebookod­er Telegram-Seiten wie „Serbia in my mind“tauschen sich Tausende russischer NeuBelgrad­er weniger über den Krieg oder Putin als über Alltagsfra­gen wie Behördengä­nge, die Eröffnung von Bankkonten, Schulen oder Sportclubs für die Kinder oder Ausflugszi­ele in ihrer neuen Heimat aus.

Die in russischen FacebookGr­uppen lancierte Falschmeld­ung, dass Russen in Serbien deportiert und nach Russland ausgeliefe­rt werden könnten, falls sie ihr Heimatland „in den Schmutz ziehen“, sorgte nur kurz für Verunsiche­rung. Ihre Gruppe habe umgehend ein Dementi der Polizei eingeholt, erzählt Seregina: „Es war gut, dass wir diesen Einschücht­erungsvers­uch widerlegen konnten.“

Bei der Frage, wie lange er mit dem Verbleib im Exil rechne, zuckt Sergej mit den Schultern: „Es gibt keine dauerhafte­re Sache als eine vorübergeh­ende Lösung: Niemand weiß, wie lange das alles noch dauern wird.“

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Der russische Kriegsherr ist in Serbien wohlgelitt­en. Doch es gibt auch Proteste gegen seinen Angriffskr­ieg.

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