Salzburger Nachrichten

Als-ob-Stammeskun­st und ein toter Kentaur

Wundertüte­ncharme prägt die Länderpavi­llons der Biennale Venedig: von sanften Rauminterv­entionen bis zur grellbunte­n Roma-Historie.

- MARTIN BEHR

VENEDIG. Das Mauerwerk bröckelt, das Stroh ist alt und auf dem Boden liegt ein toter (oder schlafende­r?) Kentaur. Andächtige Stimmung im dänischen Pavillon auf dem Giardini-Gelände. So mancher Besucher bückt sich, um zu überprüfen, ob der Körper der Frau real ist. „We Walked the Earth“nennt der Künstler Uffe Isolotto seine Installati­on, die in einem weiteren Raum an Dramatik zunimmt: Hier hat sich ein Mischwesen aus Pferd und Mensch erhängt. Isolottos hyperreali­stisch inszeniert­es Drama ist düster, unheilund geheimnisv­oll, stellt mehr Fragen, als es Antworten gibt. „Nordic Noir“ist jetzt auch in die bildende Kunst eingefloss­en.

Insgesamt 80 Länder versuchen sich auf der 59. Kunstbienn­ale von Venedig in Szene zu setzen, beim Flanieren durch die Kontinente und Staaten vermisst man weitgehend die großen Themen der Zeit – kaum Pandemie, wenig Klimawande­l, als der Krieg in der Ukraine begann, waren längst alle Planungen abgeschlos­sen. So sind die Länderpräs­entationen einmal mehr von Wundertüte­ncharme geprägt, hier (Ägypten) Materialsc­hlacht, da (Spanien) sensibler Eingriff. Unter dem Titel „Corrección“baut Ignasi Aballí im Domizil der Spanier neue Wände ein, deren Ausrichtun­g auf die Nachbarpav­illons – Belgien und Niederland­e – Bezug nimmt. Was auf den ersten Blick leer erscheint, ist ein feinsinnig­er architekto­nischer Eingriff, der – Sonnensche­in vorausgese­tzt – auch Schattenmu­ster an das Wanddickic­ht wirft.

Stichwort Belgien. Jahrelang hat Francis Alÿs weltweit Kinder beim Spielen gefilmt. Jetzt zeigt er in Videos, wie Reifen auf Hügel manövriert, Schneckenr­ennen veranstalt­et oder Zebrastrei­fen kreativ genutzt werden können. Die Dokumente

kindlicher Fantasie und Spielfreud­e werden mit kleinforma­tigen, gemalten Traumbilde­rn ergänzt: ziemlich überzeugen­d, dieser Auftritt von Alÿs. Durchaus preisverdä­chtig – am Samstag werden die Goldenen Löwen vergeben – ist auch der polnische Pavillon. Roma-Künstlerin Małgorzata Mirga-Tas ließ sich von den Fresken aus dem Palazzo Schifanoia in Ferrara inspiriere­n. In zwölf wandfüllen­den Textilarbe­iten wird das astrologis­che Freskenpro­gramm mit Szenen aus der Roma-Mythologie und dem Alltagsleb­en der Minderheit neu interpreti­ert. „Reenchanti­ng the World“heißt diese farbenfroh­e, narrative Arbeit, die auf eine unterdrück­te Kultur aufmerksam macht.

Den nicht einfachen Brückensch­lag zwischen afrikanisc­hen Kunsttradi­tionen und europäisch­er Moderne unternimmt im amerikanis­chen Pavillon die schwarze Künstlerin Simone Leigh. Dem Pavillon hat sie ein Strohdach aufgesetzt, ein monumental­es Objekt, das eine nackte Frau symbolisie­rt, begrüßt die Besucher und im Inneren ist die Skulptur einer gebückten Wäscherin ein begehrtes Fotomotiv. Die unter dem Motto „Sovereignt­y“stehenden hybriden Werke zitieren, ja ironisiere­n Stammeskun­st und kolonialis­tisches Denken, könnten freilich auch missinterp­retiert werden. Das macht die Arbeit reizvoll und diskussion­swürdig.

Historisch­e Spurensuch­e lautet (wieder einmal) das Thema im deutschen Pavillon, Maria Eichhorn hat in der leeren Architektu­rhülle Ziegelwänd­e freilegen und Fundamente eines Vorgängerb­aus ausgraben lassen: „Relocating a Structure“. Ursprüngli­ch hätte der gesamte Pavillon temporär versetzt werden sollen. Wäre sicher spannender gewesen. Ein die Sinne anregendes Bild- und Tongewitte­r („Desastres“) bietet Marco Fusinato im Pavillon von Australien auf. Der Künstler selbst begleitet mit der Stromgitar­re einen immer rasanter werdenden, großflächi­g projiziert­en Bilderstro­m der Jetztzeit: eine markante, ohrenbetäu­bende Lebenssinf­onie.

Ausstellun­g: Biennale Venedig, Gardini und Arsenale, bis 27. 11.

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 ?? BILDER: SN/M.B. ?? Simone Leigh bespielt den amerikanis­chen Pavillon (o.), Uffe Isolotto vertritt Dänemark mit einer düsterdram­atischen Installati­on.
BILDER: SN/M.B. Simone Leigh bespielt den amerikanis­chen Pavillon (o.), Uffe Isolotto vertritt Dänemark mit einer düsterdram­atischen Installati­on.

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