Als-ob-Stammeskunst und ein toter Kentaur
Wundertütencharme prägt die Länderpavillons der Biennale Venedig: von sanften Rauminterventionen bis zur grellbunten Roma-Historie.
VENEDIG. Das Mauerwerk bröckelt, das Stroh ist alt und auf dem Boden liegt ein toter (oder schlafender?) Kentaur. Andächtige Stimmung im dänischen Pavillon auf dem Giardini-Gelände. So mancher Besucher bückt sich, um zu überprüfen, ob der Körper der Frau real ist. „We Walked the Earth“nennt der Künstler Uffe Isolotto seine Installation, die in einem weiteren Raum an Dramatik zunimmt: Hier hat sich ein Mischwesen aus Pferd und Mensch erhängt. Isolottos hyperrealistisch inszeniertes Drama ist düster, unheilund geheimnisvoll, stellt mehr Fragen, als es Antworten gibt. „Nordic Noir“ist jetzt auch in die bildende Kunst eingeflossen.
Insgesamt 80 Länder versuchen sich auf der 59. Kunstbiennale von Venedig in Szene zu setzen, beim Flanieren durch die Kontinente und Staaten vermisst man weitgehend die großen Themen der Zeit – kaum Pandemie, wenig Klimawandel, als der Krieg in der Ukraine begann, waren längst alle Planungen abgeschlossen. So sind die Länderpräsentationen einmal mehr von Wundertütencharme geprägt, hier (Ägypten) Materialschlacht, da (Spanien) sensibler Eingriff. Unter dem Titel „Corrección“baut Ignasi Aballí im Domizil der Spanier neue Wände ein, deren Ausrichtung auf die Nachbarpavillons – Belgien und Niederlande – Bezug nimmt. Was auf den ersten Blick leer erscheint, ist ein feinsinniger architektonischer Eingriff, der – Sonnenschein vorausgesetzt – auch Schattenmuster an das Wanddickicht wirft.
Stichwort Belgien. Jahrelang hat Francis Alÿs weltweit Kinder beim Spielen gefilmt. Jetzt zeigt er in Videos, wie Reifen auf Hügel manövriert, Schneckenrennen veranstaltet oder Zebrastreifen kreativ genutzt werden können. Die Dokumente
kindlicher Fantasie und Spielfreude werden mit kleinformatigen, gemalten Traumbildern ergänzt: ziemlich überzeugend, dieser Auftritt von Alÿs. Durchaus preisverdächtig – am Samstag werden die Goldenen Löwen vergeben – ist auch der polnische Pavillon. Roma-Künstlerin Małgorzata Mirga-Tas ließ sich von den Fresken aus dem Palazzo Schifanoia in Ferrara inspirieren. In zwölf wandfüllenden Textilarbeiten wird das astrologische Freskenprogramm mit Szenen aus der Roma-Mythologie und dem Alltagsleben der Minderheit neu interpretiert. „Reenchanting the World“heißt diese farbenfrohe, narrative Arbeit, die auf eine unterdrückte Kultur aufmerksam macht.
Den nicht einfachen Brückenschlag zwischen afrikanischen Kunsttraditionen und europäischer Moderne unternimmt im amerikanischen Pavillon die schwarze Künstlerin Simone Leigh. Dem Pavillon hat sie ein Strohdach aufgesetzt, ein monumentales Objekt, das eine nackte Frau symbolisiert, begrüßt die Besucher und im Inneren ist die Skulptur einer gebückten Wäscherin ein begehrtes Fotomotiv. Die unter dem Motto „Sovereignty“stehenden hybriden Werke zitieren, ja ironisieren Stammeskunst und kolonialistisches Denken, könnten freilich auch missinterpretiert werden. Das macht die Arbeit reizvoll und diskussionswürdig.
Historische Spurensuche lautet (wieder einmal) das Thema im deutschen Pavillon, Maria Eichhorn hat in der leeren Architekturhülle Ziegelwände freilegen und Fundamente eines Vorgängerbaus ausgraben lassen: „Relocating a Structure“. Ursprünglich hätte der gesamte Pavillon temporär versetzt werden sollen. Wäre sicher spannender gewesen. Ein die Sinne anregendes Bild- und Tongewitter („Desastres“) bietet Marco Fusinato im Pavillon von Australien auf. Der Künstler selbst begleitet mit der Stromgitarre einen immer rasanter werdenden, großflächig projizierten Bilderstrom der Jetztzeit: eine markante, ohrenbetäubende Lebenssinfonie.
Ausstellung: Biennale Venedig, Gardini und Arsenale, bis 27. 11.