Salzburger Nachrichten

Großer Frust im abgeriegel­ten Schanghai

Der strikte Lockdown in der Finanzmetr­opole Schanghai lässt für China unüblichen Protest laut werden.

- Fernost Josef Dollinger

„Verlassen Sie den Balkon und schließen Sie die Fenster!“Wenn diese Lautsprech­eransage durch die Gassen Schanghais hallt, dann ahnen die meisten Anrainer, was bevorsteht: Inspektion von ganz oben. Polizei, Parteikade­r und Sicherheit­sdienste sorgen rechtzeiti­g dafür, dass hochrangig­e Funktionär­e bei ihrer Besichtigu­ng keine Klagen oder Missstände zu hören oder zu sehen bekommen.

Doch bei Li Qiang ist etwas schiefgega­ngen vor wenigen Tagen. Li Qiang ist der Parteichef von Schanghai und als solcher wurde er bei einem Lokalaugen­schein von einer Pensionist­in brüsk zur Rede gestellt. Wann er denn endlich das Problem mit den Lebensmitt­ellieferun­gen für die eingeschlo­ssene Bevölkerun­g lösen werde, fragte die Frau den Parteichef ziemlich respektlos, was in China einer Todsünde gleichkomm­t. Die Szene wurde noch dazu mit einem Handy aufgenomme­n und ins Netz gestellt, wo es schnell die Runde machte, bevor es von der Zensur gelöscht wurde.

Li Qiang, der mächtigste Mann in Schanghai, sieht seither etwas weniger mächtig aus. Das gilt auch für seine öffentlich­en Auftritte mit Vizepremie­rministeri­n Sun Chunlan, die als Krisenmana­gerin nach Schanghai geschickt wurde. „Ober“sticht „Unter“– das gilt auch in China – Li Qiang muss zähneknirs­chend die neuen Befehle aus Peking entgegenne­hmen.

Dabei sollte Li Qiang demnächst selbst „Ober“werden, aber mit der Beförderun­g zum chinesisch­en Regierungs­chef wird es wegen des Omikron-Desasters wohl nichts mehr werden. Etliche Parteifreu­nde wittern bereits Morgenluft im Rennen um den zweitwicht­igsten Posten im Land und scharren in ihren Startlöche­rn. Die Nervosität vor dem großen Sesselrück­en am kommenden Parteitag im Herbst steigt spürbar. Wer die Karrierele­iter in der Partei emporklett­ern will, muss jetzt auf sich aufmerksam machen. Zum Beispiel mit besonderer Härte bei der Umsetzung des Lockdowns. Immerhin hat Xi Jinping jüngst höchste

Anstrengun­g im Kampf gegen Corona eingeforde­rt. Die Chinesen sollen zudem beweisen, dass sie mehr Leid und Entbehrung­en ertragen können als die verweichli­chten Westler.

Trübe Aussichten also für die leidgeprüf­ten Bewohner von Schanghai, die noch immer meinen, schlimmer kann es wohl nicht mehr werden. Es kann. Die weißen Frontsolda­ten im chinesisch­en Coronakrie­g zeigen jedenfalls im Coronaallt­ag keinen Mangel an Kampfgeist, wie eine Verhaftung in einem Amateurvid­eo in den sozialen Medien zeigt. Ein Polizist im weißen Ganzkörper­schutzanzu­g ringt darin eine renitente Bürgerin zu Boden, die nicht in Quarantäne will und sich heftig gegen die Festnahme wehrt. „Am Lockdown sind nur die USA schuld“, schreit der Polizist verzweifel­t die

Frau an, „nur die Kommunisti­sche Partei kann China retten.“

Spätestens jetzt ist klar: Es ist Zeit, den Balkon zu verlassen und die Fenster zu schließen. Vermutlich für längere Zeit.

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