Großer Frust im abgeriegelten Schanghai
Der strikte Lockdown in der Finanzmetropole Schanghai lässt für China unüblichen Protest laut werden.
„Verlassen Sie den Balkon und schließen Sie die Fenster!“Wenn diese Lautsprecheransage durch die Gassen Schanghais hallt, dann ahnen die meisten Anrainer, was bevorsteht: Inspektion von ganz oben. Polizei, Parteikader und Sicherheitsdienste sorgen rechtzeitig dafür, dass hochrangige Funktionäre bei ihrer Besichtigung keine Klagen oder Missstände zu hören oder zu sehen bekommen.
Doch bei Li Qiang ist etwas schiefgegangen vor wenigen Tagen. Li Qiang ist der Parteichef von Schanghai und als solcher wurde er bei einem Lokalaugenschein von einer Pensionistin brüsk zur Rede gestellt. Wann er denn endlich das Problem mit den Lebensmittellieferungen für die eingeschlossene Bevölkerung lösen werde, fragte die Frau den Parteichef ziemlich respektlos, was in China einer Todsünde gleichkommt. Die Szene wurde noch dazu mit einem Handy aufgenommen und ins Netz gestellt, wo es schnell die Runde machte, bevor es von der Zensur gelöscht wurde.
Li Qiang, der mächtigste Mann in Schanghai, sieht seither etwas weniger mächtig aus. Das gilt auch für seine öffentlichen Auftritte mit Vizepremierministerin Sun Chunlan, die als Krisenmanagerin nach Schanghai geschickt wurde. „Ober“sticht „Unter“– das gilt auch in China – Li Qiang muss zähneknirschend die neuen Befehle aus Peking entgegennehmen.
Dabei sollte Li Qiang demnächst selbst „Ober“werden, aber mit der Beförderung zum chinesischen Regierungschef wird es wegen des Omikron-Desasters wohl nichts mehr werden. Etliche Parteifreunde wittern bereits Morgenluft im Rennen um den zweitwichtigsten Posten im Land und scharren in ihren Startlöchern. Die Nervosität vor dem großen Sesselrücken am kommenden Parteitag im Herbst steigt spürbar. Wer die Karriereleiter in der Partei emporklettern will, muss jetzt auf sich aufmerksam machen. Zum Beispiel mit besonderer Härte bei der Umsetzung des Lockdowns. Immerhin hat Xi Jinping jüngst höchste
Anstrengung im Kampf gegen Corona eingefordert. Die Chinesen sollen zudem beweisen, dass sie mehr Leid und Entbehrungen ertragen können als die verweichlichten Westler.
Trübe Aussichten also für die leidgeprüften Bewohner von Schanghai, die noch immer meinen, schlimmer kann es wohl nicht mehr werden. Es kann. Die weißen Frontsoldaten im chinesischen Coronakrieg zeigen jedenfalls im Coronaalltag keinen Mangel an Kampfgeist, wie eine Verhaftung in einem Amateurvideo in den sozialen Medien zeigt. Ein Polizist im weißen Ganzkörperschutzanzug ringt darin eine renitente Bürgerin zu Boden, die nicht in Quarantäne will und sich heftig gegen die Festnahme wehrt. „Am Lockdown sind nur die USA schuld“, schreit der Polizist verzweifelt die
Frau an, „nur die Kommunistische Partei kann China retten.“
Spätestens jetzt ist klar: Es ist Zeit, den Balkon zu verlassen und die Fenster zu schließen. Vermutlich für längere Zeit.