Frauen dominieren die Surrealismus-Biennale
Vieles ist neu auf der 59. Weltkunstschau in Venedig. In Zeiten des Krieges ermöglicht Kuratorin Cecilia Alemani zahlreiche Entdeckungen.
VENEDIG. Die Stadt Venedig feiert mit einjähriger pandemiebedingter Unterbrechung wieder die Kunst, aber sie tut es weniger exaltiert als früher. Die Zahl ausschweifender Partys ist reduziert, vorbei sind die Zeiten, als Oligarchen für einen Abend Elton John einfliegen ließen. Pandemie und Krieg in der Ukraine dämpfen die Freude des internationalen, in allen Pavillons masketragenden Kunstpublikums darüber, dass es endlich ein Zusammenkommen in der Lagunenstadt gibt.
Wie wichtig ist Kunst in einer Zeit, in der in Europa Menschen von Raketen getötet werden? Gespräche darüber ersetzen den einstigen Smalltalk, ob und mit welcher Superyacht der Milliardär Roman Abramowitsch denn angelegt hat: Selbstreflexion statt Oberflächlichkeitsfixiertheit. Ja, einiges ist neu auf der 59. Kunstbiennale von Venedig, die heute, Samstag, eröffnet wird. Vorbei sind die Zeiten, als Berge von gedrucktem Infomaterial für das Publikum bereitlagen. Nun hat der QR-Code, über den Begleittexte und Fotos abrufbar sind, die Papierflut abgelöst. Das Handy wird bei der Konsumation von Kunst zum unverzichtbaren Begleiter.
Wenn die Alltagswirklichkeit trist ist, eröffnet Surrealismus neue Möglichkeiten. Unter dem Motto „The Milk of Dreams“präsentiert die italienische Kunsthistorikerin Cecilia Alemani eine Hauptausstellung, in der es viele Ausfluchtstrategien, innere Welten, Kopfreisen, Obsessionen und andere Zurichtungen der eigenen Fantasie zu entdecken gibt. Der Titel der Schau geht auf ein Buch von Leonora Carrington (1917–2011) zurück, in dem die surrealistische Künstlerin eine magische Welt beschreibt, in der das Leben durch die Vorstellungskraft ständig neu erdacht werden kann.
Der Ausstellung hat die lange Vorbereitungszeit gutgetan. Da wurde nicht, wie auch schon geschehen, das Who’s who der den Markt dominierenden (männlichen) Künstlergarde auf den Auswahlzettel gekritzelt, hier wurde ein – freilich nicht hermetisches – Themenfeld ausgelegt, das auch historische Exkurse einschließt. Nicht zu vergessen eine andere revolutionäre Zeichensetzung:
Weit mehr als 80 Prozent der in „The Milk of Dreams“vertretenen 213 Kunstschaffenden aus 58 Nationen sind Frauen. Ein Novum in der 127-jährigen Biennale-Historie.
Im zentralen Pavillon begrüßt der Polyesterelefant von Katharina Fritsch das Publikum, ein mächtiges, mattgrünes Denkmal nicht nur für ein Matriarchat, auch für die Strategie der Kunst, Vertrautes zu adaptieren, mit einem Geheimnis aufzuladen. Stichwort Geheimnis: Arbeiten der spanischen Heilerin Josefa Tolrà (1880–1959), der französischen Künstlerin Claude Cahun (1894–1954) oder der Schweizerin Miriam Cahn (72) seien stellvertretend für ein Pendeln zwischen Traum und Vision genannt.
Der Körper und seine Transformationen sind omnipräsent, auch auf dem Arsenale-Gelände: Ganzkörpermasken von Lavinia Schulz und Walter Holdt sowie Mischwesen („Toys“) aus Mensch und Maschine von Geumhyung Jeong. Ein Höhepunkt: das brachial-poetische Video „Lacerate“der Griechin Janis Rafa, eine bewegte und bewegende animalische Vanitasdarstellung. „The Milk of Dreams“würdigt auch das Werk zweier Österreicherinnen: Birgit Jürgenssen (1949–2003) und Kiki Kogelnik (1935–1997).