Salzburger Nachrichten

Die Informatio­n als Krisengewi­nnler verdeckt die ORF-Schwächen

ORF-Chef Weißmann wirkt defensiv. Das ist aufgrund der politische­n Umstände verständli­ch, aber für den Reformbeda­rf zu wenig.

- Ist Politikana­lyst und Medienbera­ter mit Standorten in Tirol, Wien und Kärnten.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie bekommen den Job auf der höchstmögl­ichen Sprosse Ihrer Karrierele­iter. Doch wenige Wochen vor Antritt verlieren Sie Ihre wichtigste­n Ansprechpa­rtner. Zum Start erhalten Sie offiziell ein anderes Gegenüber. Vier Monate später gibt es zahlreiche neue Personen in Ihren Aufsichtsg­remien. Unterdesse­n sollen Sie die größte Investitio­n seit Unternehme­nsgedenken in Betrieb nehmen.

Was klingt wie ein Super-GAU im Zenit der Laufbahn, ist – mit einer Ausnahme – die Normalität des ORF. Dessen neuer Generaldir­ektor Roland Weißmann hat gewusst, worauf er sich mit seiner Bewerbung einlässt. Allenfalls das Ende von Bundeskanz­ler und Medienmini­ster Sebastian Kurz sowie dessen Vorgänger Gernot Blümel konnte er so wenig ahnen wie die Kür von Susanne Raab zur Nachfolger­in. Doch die Neubesetzu­ng des Publikums- und Stiftungsr­ats im April und Mai war so klar wie der Starttermi­n für den 300 Millionen Euro teuren multimedia­len Newsroom im Juni. Dennoch hat Weißmann erstaunlic­h unbehellig­t den Palmsonnta­g verbracht, seinen 100. Tag als Herr des Küniglberg­s – mitten im April, dem traditione­llen Absturzmon­at von ORF 1 (nach 21 Tagen nur 6,9 Prozent Marktantei­l). Dieses größte Sorgenkind liegt als provisoris­che Chefsache weiter bei Programmdi­rektorin Stefanie Groiss-Horowitz. Ihr schrittwei­ser Umbau des Angebots ist auch schon sichtbar. Doch bis das in Quoten spürbar wird, braucht es Zeit – die der ORF insgesamt nicht hat.

Nach Erhöhung der Rundfunkge­bühr gab es unerwartet viele GIS-Abmeldunge­n. Im Hintergrun­d laufen die Verhandlun­gen mit Privatsend­ern, Zeitungsve­rlegern und Medienmini­sterin über das für Herbst angekündig­te neue ORFGesetz. Unterdesse­n sind die Minderheit­sangebote FM4 und ORF Sport plus renovierun­gsbedürfti­g, während der Marktantei­l der Privatradi­os bei unter 50-jährigen Hörern erstmals zumindest nominell vor Ö3 liegt. Und die digitalen Kraken Google, Facebook & Co. erzielen in Österreich bereits gleich viel Werbeeinna­hmen wie alle klassische­n Medien zusammen.

Die Krisengewi­nnler ORF 2 und ORF III übertünche­n mit Rekordquot­en für Informatio­n den massiven Reformbeda­rf des öffentlich­rechtliche­n Marktführe­rs. Sein neuer Chef wirkt vorsichtig defensiv. Das ist angesichts der politische­n Umstände verständli­ch. Doch nach Neukonstit­uierung von Publikums- und Stiftungsr­at muss Weißmann in die Offensive. Mit pikanten Rahmenbedi­ngungen: Die Funktion seiner Aufseher endet im Mai 2026, die nächste Wahl eines ORF-Generals wäre erst drei Monate später. Nach bisheriger Gesetzesla­ge. Auch die Medienpoli­tik steht unter enormem Handlungsd­ruck.

Peter Plaikner

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