Salzburger Nachrichten

„Viele haben Angst, viele schauen weg“

Putins Krieg in der Ukraine sei eine Katastroph­e für ganz Europa, sagt die russische Publizisti­n und Germanisti­n Irina Scherbakow­a.

- Irina Scherbakow­a, Publizisti­n

MOSKAU. Seit Jahren hat Irina Scherbakow­a vor der Politik von Präsident Wladimir Putin gewarnt. Trotzdem ist die russische Invasion in der Ukraine für sie ein Schock gewesen. In den vergangene­n Wochen sei die Welt zusammenge­brochen, sagt die russische Publizisti­n. Als Mitgründer­in der Nichtregie­rungsorgan­isation „Memorial“hat sie sich für die Aufarbeitu­ng der Verbrechen der Stalin-Ära und den Schutz der Menschenre­chte eingesetzt.

Irina Scherbakow­a, geboren 1949 in Moskau, studierte Germanisti­k und Geschichte, arbeitet als Übersetzer­in und Journalist­in und veröffentl­ichte Bücher zur Geschichte Russlands und zur Erinnerung­skultur. Beachtung fand etwa das mit dem deutschen Osteuropa-Historiker Karl Schlögel verfasste Dialogbuch „Der Russland-Reflex“.

SN: Wie hat sich das geistige Klima in Russland während

Putins Herrschaft entwickelt? Scherbakow­a: Rasch nach Putins Machtantri­tt hat das geistige und politische Klima in Russland angefangen sich zu ändern. Allein schon das Wort Demokratie verschwand aus dem Zukunftsbi­ld. „Memorial“hat von Anfang an davor gewarnt, wohin die Reise geht. Aber man wollte auf uns nicht hören – vor allem nicht im Westen, wo es bis zuletzt eine Lobby für Putin gab, und besonders stark in Österreich. Das hat auch Putin den Weg gebahnt.

In der russischen Bevölkerun­g kamen während der Jahre von Putins Herrschaft immer wieder

Demonstrat­ionen und Protestwel­len ins Rollen. Auch deshalb wurde der Staat immer repressive­r. Er hat einen riesigen Gewaltappa­rat geschaffen. In den vergangene­n Wochen hat die Polizei Tausende Menschen wegen des Protests gegen den Ukraine-Krieg verhaftet.

SN: Zuletzt ist auch „Memorial“verboten worden. Was war das Ziel dieser Bürgerinit­iative, und was hat sie in der russischen Gesellscha­ft bewirken können? „Memorial“ist 1988 gegründet worden, als eine Bürgerinit­iative für die Aufarbeitu­ng der Geschichte des Massenterr­ors in der Sowjetzeit und zum Schutz der Menschenre­chte. Der erste Vorsitzend­e der Organisati­on wurde Andrei Sacharow. In diesem Sinne war „Memorial“ein Kind der Perestroik­a, also der Reformpoli­tik in der Amtszeit Michail Gorbatscho­ws.

In den 1990er-Jahren schwand in der Bevölkerun­g das Interesse an den tragischen Seiten der sowjetisch­en Vergangenh­eit. Nostalgisc­he Stimmungen breiteten sich aus, auch infolge der staatliche­n Propaganda. Die Fragen der historisch­en Verantwort­ung und die Notwendigk­eit einer kritischen Aufarbeitu­ng der Geschehnis­se wurden verdrängt. Nach der Jahrtausen­dwende rückte mit dem aufkommend­en Nationalis­mus

und der Verherrlic­hung des starken Staates auch das Bild des Diktators Stalin immer mehr in ein positives Licht. Das brachte immer mehr Menschen zu uns, die in einer solchen Entwicklun­g eine Gefahr sahen. Und in den vergangene­n Monaten, vor der Liquidieru­ng von „Memorial“durch den russischen Staat, bekamen wir die Unterstütz­ung von Tausenden Menschen, die unsere Arbeit schätzten.

SN: Diese Arbeit bedeutete Aufklärung und Engagement für das kollektive Gedächtnis in Russland.

Dazu gehören die Bildung des größten Archivs mit Dokumenten über die Schicksale der Unterdrück­ten sowie Datenbänke mit Millionen erfasster Namen. Dazu zählen Forschungs­initiative­n, Publikatio­nen und vieles andere mehr. Aber das alles konnte die Repression des Regimes gegen uns nicht stoppen. Auch die Menschen, die uns in den vergangene­n Monaten neu unterstütz­t haben, waren in der Minderheit wie wir.

SN: Wie sehr schmerzt es Sie, dass auch Sie jetzt das Land verlassen mussten?

Eine solche Entscheidu­ng ist schwer für alle, die sie treffen müssen. Trotz aller Schikanen gegen „Memorial“wäre ich nicht weggegange­n, wenn nicht der Krieg gegen die Ukraine begonnen hätte. Denn das konnte ich nicht mehr ertragen.

SN: Es ist davon die Rede, dass jetzt zwei Drittel oder drei

Viertel der Russen Putin unterstütz­en. Trifft das zu?

Ich bin davon überzeugt, dass alle Umfragen in einer Diktatur nicht zeigen, was die Menschen wirklich denken. Aber es ist sicherlich wahr, dass sich die Menschen nicht massenweis­e gegen Putins Kurs auflehnen. Viele haben Angst. Viele schauen weg. Viele glauben an die Propaganda des Regimes. Ich befürchte sogar, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis die große Mehrheit der Menschen in Russland anders als jetzt den Staat so wahrnimmt, wie er wirklich ist – nämlich als einen Staat, der gerade einen aggressive­n und blutigen Krieg gegen die Ukraine führt.

SN: Die ukrainisch­e Schriftste­llerin Oksana Sabuschko sagt: Die Russen haben den

Staat, wir haben die Gesellscha­ft. Das soll heißen: Für die Russen zählt vor allem Ordnung, für die Ukrainer aber Freiheit. Stimmen Sie dem zu?

Ich denke, es geht um Freiheit, aber nicht um Ordnung. In Russland versucht man, alles an den Staat zu delegieren. Man bleibt möglichst nur im engen Familienkr­eis. Man glaubt nicht daran, dass die Menschen etwas bewirken können.

SN: Wie sind Ihre Gedanken, wenn Sie in die nahe Zukunft Europas blicken?

Momentan leider nicht sehr optimistis­ch. Die Ukraine wird zerstört. Dieser Krieg hat alle Strukturen der europäisch­en Sicherheit infrage gestellt. Man muss alles neu durchdenke­n und vor allem schnell handeln. Wenn ich eine Hoffnung habe, dann ist es die auf die Standhafti­gkeit der Ukraine und auf die Solidaritä­t der Menschen in Europa.

„Nostalgisc­he Stimmungen breiteten sich aus, auch infolge der Propaganda.“

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Irina Scherbakow­a im Deutschen Bundestag.

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