Recht auf Abtreibung ist in Gefahr
Ein Leak versetzt die USA in Aufruhr: Der Oberste Gerichtshof könnte laut einem Urteilsentwurf das Abtreibungsrecht abschaffen.
Das ging aber schnell. Kaum sickerte am Montagabend durch, dass die konservative Mehrheit des höchsten amerikanischen Gerichts nach 50 Jahren das Recht auf Abtreibungen kippen könnte, da versammelten sich beim Supreme Court Hunderte Demonstrantinnen und Demonstranten und empörten sich lautstark.
Dabei ist noch gar nicht klar, ob das Recht auf Abtreibung, so wie es 1973 durch den Supreme Court in Washington kodifiziert wurde, wirklich gestrichen wird. Bekannt ist bisher nur, dass ein Wortführer des konservativen Flügels – der seit 2006 amtierende Richter Samuel Alito – vor einigen Monaten am höchsten Gericht einen Entwurf für ein Urteil zirkulieren ließ, das allem Anschein nach von einer Mehrheit der konservativen Richter unterstützt wird. So jedenfalls berichtete es am Montag das Washingtoner Onlineportal Politico und veröffentlichte das Dokument.
Der Urteilsentwurf ist eine Abrechnung mit Roe v. Wade, wie das Grundsatzurteil aus 1973 nach Klägerin und Angeklagtem von damals genannt wird. Alito bezeichnet das Urteil als „ungeheuerlich falsch“– eine Aussage, die niemanden erstaunen wird, der in den vergangenen Jahrzehnten einem republikanischen Politiker oder einer konservativen Juristin zugehört hat. Alito schreibt: „Es ist Zeit, die Verfassung zu beachten und das Thema Abtreibung an die gewählten Vertreter des Volkes zurückzugeben.“
Die Demokraten und Präsident Joe Biden dagegen hoffen, vor den Kongress-Zwischenwahlen im Herbst politisch von der wiederaufgeflammten Debatte über das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch zu profitieren. Biden selbst sprach in einer ersten Stellungnahme von einem „fundamentalen Recht“, das unter Beschuss stehe.
Und er rief Wählerinnen und Wähler auf, im November an die Urne zu gehen und Kandidatinnen und Kandidaten zu unterstützen, die „Pro Choice“seien. So werden die Unterstützer eines liberalen Abtreibungsrechts im amerikanischen Sprachgebrauch genannt.
Ein Blick auf Meinungsumfragen zeigt: Die Demokraten vertreten in dieser Frage die Mehrheit der Bevölkerung. Nur etwa 20 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner sprechen sich gemäß den Zahlen des Umfrageinstituts Gallup für ein komplettes Abtreibungsverbot aus.
Allein: Dieses Bevölkerungssegment, das sich als „Pro Life“bezeichnet, ist national weit besser organisiert als der politische Gegner. Gerade im Süden Amerikas und im Landesinneren geben die religiösen Abtreibungsgegner, die fast allesamt der Republikanischen Partei angehören, politisch den Ton an.
Sollte sich der Supreme Court deshalb wirklich entscheiden, das
Grundsatzurteil zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1973 umzustoßen, hätte dies unmittelbare Folgen auf den Alltag. Die Entscheidung, ob Abtreibungen erlaubt sind oder nicht, fiele im föderalistisch organisierten Amerika wieder in die Zuständigkeit der 50 Bundesstaaten.
Einige Staaten – darunter Texas – haben bereits vorgesorgt. In ihren Gesetzessammlungen finden sich sogenannte Trigger Laws, in denen nachzulesen ist, dass ein Abtreibungsverbot automatisch in Kraft tritt, sobald der Supreme Court das Grundsatzurteil Roe v. Wade kippt. Dieses Gesetz sähe keine Ausnahmen bei Vergewaltigungen oder Inzest vor.
In anderen konservativen Staaten – Florida zum Beispiel – müssten die Parlamente zuerst noch beraten. Aber angesichts der Dominanz der Republikaner im Süden und im Landesinneren ist damit zu rechnen, dass Abtreibungen künftig in rund der Hälfte der Bundesstaaten verboten sein werden. Und in der anderen Hälfte der USA werden konservative Politikerinnen und Politiker den Versuch unternehmen, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einzuschränken.
In politisch umkämpften Bundesstaaten wird Abtreibung damit auf einen Schlag zu einem wichtigen Wahlkampfthema. Einige Republikaner reden bereits darüber, Abtreibungen bundesweit zu verbieten. Doch solange im Weißen Haus ein Demokrat sitzt, der entsprechende Gesetze mit einem Veto belegen kann, ist dieses Szenario unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich ist aber auch das Gegenteil: Dass es der Partei Bidens gelingen wird, ein liberales Abtreibungsrecht zu verabschieden.