Als in Sansibar noch die Briten das Sagen hatten Koloniale Erfahrungen aus erster Hand
Abdulrazak Gurnah erhielt im Vorjahr den Nobelpreis. Ein großer Roman ist jetzt neu zu entdecken.
SALZBURG. Alles hatte sich gut entwickelt für Saleh Omar. Als Schulkind fällt er den britischen Kolonialherren auf Sansibar auf, sodass ihm Bildung zuteilwerden darf. Das hilft ihm in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, etwas aus sich zu machen. Den kleinen Laden seines Vaters formt er zu einem ansehnlichen Möbelgeschäft, so gelangt er zu Wohlstand und Ansehen. Er übernimmt die Ansichten und den Fortschrittsgedanken der Briten, und so lernt er, wie die Einheimischen von den Kolonisatoren gesehen werden, „abgerissen und erbärmlich“. Natürlich will er diesem Bild nicht entsprechen, und so findet er über den westlichen Bildungsweg „Zugang zur modernen Welt“. Was zählt, ist nicht die Überlieferung der ursprünglichen Bewohner, sondern die Geschichtsauffassung der Briten. „Die Geschichten über uns selbst, die aus der Zeit stammten, bevor sie das Kommando über uns übernahmen, kamen uns mittelalterlich und wirklichkeitsfremd vor.“
Damit ist die Kontrolle über die Bevölkerung gewonnen. Wenn die gebildeten Sansibari genauso wie die Besatzer denken, ist mit Aufstand nicht zu rechnen. Ihre Geschichte wird getilgt, an deren Stelle tritt die Geschichte, wie sie sich die Kolonisatoren ausgedacht haben. Erst spät, im Exil, fallen Saleh Ungereimtheiten
auf. Im Unterricht erfahren die Schüler vom Edelmut, sich der Tyrannei zu widersetzen, und nehmen die Ausgangssperre zwischen Sonnenuntergang und Morgengrauen in Kauf. Für Saleh ist die Zeit unter den Briten die beste.
In Verruf, gierig und grausam zu sein, gerät er, als er sich ein Haus aneignet, das ein anderer als Pfand eingesetzt hat und nach einem Verlustgeschäft aufgeben muss. Das zieht eine Familienkatastrophe der Verjagten nach sich. Das Recht steht eindeutig auf Salehs Seite.
Glaubt er jedenfalls, Zeiten ändern sich, ein Regimewechsel steht an, als die Briten abziehen und in der Unabhängigkeit die Karten neu gemischt werden. Der Sieger von einst wird zum Betrüger erklärt, erlebt Haft und Ausgrenzung, und sieht nur in der Flucht die Möglichkeit, seine Haut zu retten. Er landet in England, wo er auf Latif Mahmud trifft. Der ist der Sohn aus ebenjenem Hause, dessen seine Familie zugunsten Salehs verlustig gegangen ist. Beide treten als Erzähler in Erscheinung, so treten zwei Wahrheiten zutage. Erst in der Konfrontation der beiden kommt es zu einer Annäherung, wenn einer den Blick des anderen respektiert.
Als im vorigen Jahr Abdulrazak Gurnah der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, war das eine längst fällige Entscheidung für einen, der koloniale Erfahrungen durchlebt hat und darüber aus erster Hand zu erzählen weiß. Er ist europäisch gebildet, was man dem Roman ansieht, der nicht nur Erzähltechniken
der Moderne anwendet, sondern auch voll ist an Verweisen an Klassiker der europäischen und amerikanischen Literatur, William Shakespeare und Herman Melville vor allem. Gurnah lehnt sie nicht als Fremdkörper ab, sondern nimmt sie als Bereicherung seines Denkens gerne an.
In diesem Buch gibt es nirgends eine ideale Welt, nicht die Zeit der Kolonisierung, nicht die Zeiten davor und danach. Auch England, wo sich Emigrantenschicksale schließlich treffen, ist kein anheimelnder Ort, freundlicher als Sansibar allemal. Aber wie soll einer vom Schlage Salehs, der kapiert hat, wie die Briten das ehemals funktionierende Sozial- und Wirtschaftssystem auf Sansibar des eigenen Vorteils willen „im Namen einer höheren Zivilisation“zerschlagen haben, nicht misstrauisch bleiben? „Sie wollten das Opium, den Kautschuk, das Zinn, die Edelhölzer, die Gewürze.“
Die Lebensläufe bei Gurnah entwickeln sich vor dem Hintergrund der großen Geschichte. Niemand bleibt unbehelligt von den Entwicklungen, die ihm ins Geschäft pfuschen, sein Privatleben versauen, die Freiheit rauben. Selbstbestimmt leben seine Figuren nur auf Zeit – bis zum nächsten Wandel, der alles Vorherige unter Verdacht stellt. Dieser Roman, 2001 im Original erschienen, ist ein Ereignis. Selber schuld, wer ihn sich entgehen lässt.