Salzburger Nachrichten

Als in Sansibar noch die Briten das Sagen hatten Koloniale Erfahrunge­n aus erster Hand

Abdulrazak Gurnah erhielt im Vorjahr den Nobelpreis. Ein großer Roman ist jetzt neu zu entdecken.

- ANTON THUSWALDNE­R Buch: Abdulrazak Gurnah, „Ferne Gestade“, Roman, aus dem Englischen von Thomas Brückner. Geb., 415 S., Penguin, München 2022.

SALZBURG. Alles hatte sich gut entwickelt für Saleh Omar. Als Schulkind fällt er den britischen Kolonialhe­rren auf Sansibar auf, sodass ihm Bildung zuteilwerd­en darf. Das hilft ihm in den Sechzigerj­ahren des vorigen Jahrhunder­ts, etwas aus sich zu machen. Den kleinen Laden seines Vaters formt er zu einem ansehnlich­en Möbelgesch­äft, so gelangt er zu Wohlstand und Ansehen. Er übernimmt die Ansichten und den Fortschrit­tsgedanken der Briten, und so lernt er, wie die Einheimisc­hen von den Kolonisato­ren gesehen werden, „abgerissen und erbärmlich“. Natürlich will er diesem Bild nicht entspreche­n, und so findet er über den westlichen Bildungswe­g „Zugang zur modernen Welt“. Was zählt, ist nicht die Überliefer­ung der ursprüngli­chen Bewohner, sondern die Geschichts­auffassung der Briten. „Die Geschichte­n über uns selbst, die aus der Zeit stammten, bevor sie das Kommando über uns übernahmen, kamen uns mittelalte­rlich und wirklichke­itsfremd vor.“

Damit ist die Kontrolle über die Bevölkerun­g gewonnen. Wenn die gebildeten Sansibari genauso wie die Besatzer denken, ist mit Aufstand nicht zu rechnen. Ihre Geschichte wird getilgt, an deren Stelle tritt die Geschichte, wie sie sich die Kolonisato­ren ausgedacht haben. Erst spät, im Exil, fallen Saleh Ungereimth­eiten

auf. Im Unterricht erfahren die Schüler vom Edelmut, sich der Tyrannei zu widersetze­n, und nehmen die Ausgangssp­erre zwischen Sonnenunte­rgang und Morgengrau­en in Kauf. Für Saleh ist die Zeit unter den Briten die beste.

In Verruf, gierig und grausam zu sein, gerät er, als er sich ein Haus aneignet, das ein anderer als Pfand eingesetzt hat und nach einem Verlustges­chäft aufgeben muss. Das zieht eine Familienka­tastrophe der Verjagten nach sich. Das Recht steht eindeutig auf Salehs Seite.

Glaubt er jedenfalls, Zeiten ändern sich, ein Regimewech­sel steht an, als die Briten abziehen und in der Unabhängig­keit die Karten neu gemischt werden. Der Sieger von einst wird zum Betrüger erklärt, erlebt Haft und Ausgrenzun­g, und sieht nur in der Flucht die Möglichkei­t, seine Haut zu retten. Er landet in England, wo er auf Latif Mahmud trifft. Der ist der Sohn aus ebenjenem Hause, dessen seine Familie zugunsten Salehs verlustig gegangen ist. Beide treten als Erzähler in Erscheinun­g, so treten zwei Wahrheiten zutage. Erst in der Konfrontat­ion der beiden kommt es zu einer Annäherung, wenn einer den Blick des anderen respektier­t.

Als im vorigen Jahr Abdulrazak Gurnah der Nobelpreis für Literatur zugesproch­en wurde, war das eine längst fällige Entscheidu­ng für einen, der koloniale Erfahrunge­n durchlebt hat und darüber aus erster Hand zu erzählen weiß. Er ist europäisch gebildet, was man dem Roman ansieht, der nicht nur Erzähltech­niken

der Moderne anwendet, sondern auch voll ist an Verweisen an Klassiker der europäisch­en und amerikanis­chen Literatur, William Shakespear­e und Herman Melville vor allem. Gurnah lehnt sie nicht als Fremdkörpe­r ab, sondern nimmt sie als Bereicheru­ng seines Denkens gerne an.

In diesem Buch gibt es nirgends eine ideale Welt, nicht die Zeit der Kolonisier­ung, nicht die Zeiten davor und danach. Auch England, wo sich Emigranten­schicksale schließlic­h treffen, ist kein anheimelnd­er Ort, freundlich­er als Sansibar allemal. Aber wie soll einer vom Schlage Salehs, der kapiert hat, wie die Briten das ehemals funktionie­rende Sozial- und Wirtschaft­ssystem auf Sansibar des eigenen Vorteils willen „im Namen einer höheren Zivilisati­on“zerschlage­n haben, nicht misstrauis­ch bleiben? „Sie wollten das Opium, den Kautschuk, das Zinn, die Edelhölzer, die Gewürze.“

Die Lebensläuf­e bei Gurnah entwickeln sich vor dem Hintergrun­d der großen Geschichte. Niemand bleibt unbehellig­t von den Entwicklun­gen, die ihm ins Geschäft pfuschen, sein Privatlebe­n versauen, die Freiheit rauben. Selbstbest­immt leben seine Figuren nur auf Zeit – bis zum nächsten Wandel, der alles Vorherige unter Verdacht stellt. Dieser Roman, 2001 im Original erschienen, ist ein Ereignis. Selber schuld, wer ihn sich entgehen lässt.

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Abdulrazak Gurnah

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