Warum Impfskepsis bei uns Tradition hat
Aufklärer Immanuel Kant war gegen die damals neue Pockenimpfung. Freiheitskämpfer Andreas Hofer befürchtete dadurch sogar die Ausbreitung des Protestantismus – während Dichterfürst Goethe sogar eine Impfpflicht forderte.
Dass die derzeitige Wissenschafts- und Impfskepsis in Österreich alles andere als neu sind, sondern eine eher unrühmliche Tradition haben, beweist ein neues Buch: Unter dem Titel „Die Medizin und ihre Feinde. Wie Scharlatane und Verschwörungstheoretiker seit Jahrhunderten Wissenschaft bekämpfen“haben Ex-„Profil“-Chefredakteur Herbert Lackner und Onkologe Christoph Zielinski die historischen Hintergründe beleuchtet.
Generell führt Lackner im SNGespräch die Behinderung des wissenschaftlichen Fortschritts zunächst auf das Verbot von Leichenöffnungen zurück: „Das galt bei allen Religionen – bei Juden und Muslimen genauso wie im Christentum –, hat aber medizinische Forschung verunmöglicht.“Nächster negativer Meilenstein seien die Hexenprozesse gewesen – „wo die Kirche nichts gegen diese spontanen Volkserhebungen getan hat“. Zudem seien so manche Motive oft sehr durchsichtig gewesen: „Der einzige Hexenprozess in Wien, der mit einer Hinrichtung endete, wurde 1583 von einem Bauern betrieben, der das Grundstück seiner Nachbarin haben wollte“, sagt Lackner – und verweist im Buch darauf, dass europaweit zwischen 1485 und 1795 rund 60.000 Personen, davon 80 Prozent Frauen, als mutmaßliche Hexen bestialisch hingerichtet wurden.
Ausführlich wird im Buch auf den ersten großen, europaweiten Anlass für Medizinkritik eingegangen – die Pockenimpfung: Sie wurde 1796 erstmals in England durchgeführt; ab 1802 gab es im Wiener AKH erste öffentliche Massenimpfungen. Ursache der Ablehnung war unter anderem, dass die Impfung aus dem Sekret der für den Menschen harmlosen Kuhpocken gewonnen wurde. Aber auch schon damals dürfte es ein Kommunikationsproblem gegeben haben. Lackner: „Die Königshäuser waren sehr für die damals noch riskante Impfung – während im Volk viel Widerstand herrschte. Aber die Könige hatten Angst um ihre Dynastien. Allein sechs Kinder von Maria Theresia sind an Pocken erkrankt, drei sind daran gestorben, ebenso wie zwei Schwiegertöchter. Und sie hatte Angst um ihre männlichen Thronfolger Leopold und Josef.“Im Volk hingegen sei die Meinung verbreitet gewesen, dass die Impfung, die etwas von außen in den Körper hineinbrachte, nichts Gottgewolltes sein könne. Die Pocken waren damals ein Massenphänomen: 15 bis 20 Prozent der Todesfälle waren laut Schätzungen von Medizinhistorikern darauf zurückzuführen; ein ähnlich hoher Prozentsatz wie die heutige Krebssterblichkeit.
Die Frage, ob die Pockenimpfung nützlich oder schädlich sei, spaltete aber auch die Polit- und Geisteswelt der damaligen Zeit, wie die beiden Buchautoren anschaulich belegen: Der Erfinder und spätere US-Präsident Benjamin Franklin war dafür; der Dichterfürst und Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe plädierte gar für eine Impfpflicht; der Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer hingegen war strikt dagegen. Hintergrund war die von den napoleonischen Besetzern Tirols eingeführte Impfpflicht, erläutert Lackner: „Das war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte – und den Aufstand von Hofer auslöste. Er hat tatsächlich geglaubt, durch das Einritzen des Oberarms, wie damals geimpft wurde, werde den Tirolern das Ketzertum, also der Protestantismus, eingeimpft.“Lackner und
Zielinski verschweigen aber auch nicht, dass selbst der große Philosoph und Aufklärer Immanuel Kant (1724–1804) anfangs Impfgegner war: „Kant hat gemeint, dass es Teil der Vorsehung sei, dass Menschen an Krankheiten sterben, weil nur so die Weltbevölkerung in Balance gehalten werden kann“, resümiert der Ex-„Profil“-Chef. Er konzediert aber, dass Kant in seinen späten Jahren seine Meinung noch geändert habe, weil er gesehen habe, dass die Pockenimpfung ab 1800 sehr erfolgreich war.
Im Buch zieht Lackner aber auch Parallelen zur Jetztzeit: „Die Corona-Gegner von heute – da sind zwei Stränge erkennbar, die es auch schon früher gab.“Denn schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe es hier rechtsextreme Gruppen gegeben, die aus antisemitischen Gründen gegen die Impfung aufgetreten seien: „Sie haben die Impfung als von Juden erfunden bezeichnet und gemeint, diese wollten damit Menschen vergiften“, weiß Lackner. Die andere Gruppe sei die sogenannte Lebenskulturbewegung gewesen, die man heute wohl als Esoteriker bezeichnen würde und die sehr vielfältig gewesen sei: „Da waren Anthroposophen und Anhänger von Rudolf Steiner genauso dabei wie Homöopathie-Fans.“Diese hätten Impfungen abgelehnt und stattdessen einen gesunden Lebensstil sowie Abhärtung als alleinigen Krankheitsschutz hochgehalten. Klar sei, dass man diese beiden Gruppen und Stränge bis heute auf den AntiMaßnahmen-Demos verfolgen könne, resümiert Lackner.
Recherchiert haben die beiden Autoren auch, dass es in Österreich schon einmal eine Impfpflicht gab – und zwar 1938 gegen die Pocken; eingeführt von den NS-Besatzern. Sie haben diese Linie vom seinerzeitigen deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck übernommen, der die Impfpflicht 1874 eingeführt hatte. Allerdings wird im Kapitel über die NS-Zeit auch deutlich, dass es unter den österreichischen Ärzten ab dem „Anschluss“1938 besonders viele NSDAP-Mitglieder gab – zudem waren viele von ihnen Impfgegner. Wie passt das zusammen? Lackner: „Nazi-Größen wie Heinrich Himmler und Rudolf Heß waren Anhänger der Naturheilkunde und haben den Begriff der ,verjudeten Schulmedizin‘ erst geprägt. Das hat sich erst geändert, als die Kriegsvorbereitungen begannen, weil dann klar war: Am Schlachtfeld kann man mit Homöopathie nichts anfangen.“
Ein eigenes Kapitel im Buch widmet sich der Frage, warum derzeit anscheinend der oft gepriesene „Hausverstand“in den Augen mancher die Wissenschaft schlage. Lackner kann hier nur mutmaßen: „Irgendwie hat die moderne Zeit Österreich und die Schweiz nicht so ganz durchdrungen. Da muss man sich auch überlegen, ob nicht das Bildungssystem versagt hat.“Denn in der Eurobarometer-Umfrage 2021 hätten 53 Prozent der Österreicher gesagt, dass es für ihren Alltag nicht wichtig sei, etwas über Wissenschaft zu wissen – was Lackner entsetzt: „Dabei haben sie ein Smartphone in der Hand, drehen den Fernseher auf und machen ihr Essen mit der Mikrowelle warm.“
Bezogen auf die aktuelle Situation macht Lackner unrund, dass die Wissenschaftsskepsis in Österreich aufgrund oder trotz der Pandemie weiter äußerst hoch ist: „Die Eurostat-Erhebung vom vergangenen Herbst hat gezeigt, dass hier Österreich im Vergleich zu den anderen EU-Mitgliedsstaaten häufig an letzter oder vorletzter Stelle liegt.“Wie beurteilt Lackner diesbezüglich den viel zitierten Sager von Salzburgs LH Wilfried Haslauer (ÖVP), wonach Virologen am liebsten alle in den Keller sperren würden? „Das war ein Beispiel für Populismus. Damit stellt man Wissenschafter bewusst schlecht hin. Und wenn es wirklich ein Scherz gewesen sein soll, dann war er sehr missglückt.“