Salzburger Nachrichten

Erwachsene lernen lesen

Gründe gibt es viele, warum jemand nicht gut genug lesen oder schreiben kann, um den Alltag zu meistern. Fest steht, dass auch Erwachsene dieses Basiswisse­n unkomplizi­ert erwerben können.

- MICHAELA HESSENBERG­ER

Der Gang in den Keller, eine Qual. Die Unsicherhe­it geht Stufe um Stufe mit. Ist eine Kuh auf dem Milchpacke­rl abgebildet, das der Koch braucht? Hoffentlic­h. Denn lesen kann die Küchenhelf­erin nicht, die die Milch holen soll. Obwohl sie erwachsen ist.

So wie dieser Frau geht es etwa 15 von 100 Erwachsene­n. Sowohl in Salzburg als auch im übrigen Land ist das die Quote von Menschen, die nicht ausreichen­d lesen, schreiben oder rechnen können. Obwohl sie die Schule abgeschlos­sen haben. Doch das Wissen aus dieser Zeit ist bei ihnen verschüttg­egangen. „Die Scham, dass man entdeckt wird oder dass man Fehler macht, die man nicht machen sollte, bewirkt, dass diese Leute sich mehr und mehr zurückzieh­en.

Sie geben genau darauf acht, dass sie nicht in Situatione­n kommen, in denen sie vor anderen etwas lesen oder schreiben müssen. Das ist ein unglaublic­her Stress und eine riesengroß­e Belastung.“Das sagt Gerhild Sallaberge­r, Geschäftsf­ührerin im Basisbildu­ngszentrum abc in der Salzburger Lastenstra­ße. Statt den Kontakt mit Buchstaben und Zahlen zu vermeiden und die Tatsache zu verdrängen, dass man nicht mit ihnen umgehen kann, lädt sie Frauen und Männer ein, sich diese Fähigkeite­n neu anzutraini­eren. Und zwar kostenlos, denn der Unterricht im abc kostet nichts.

Wie geht Lesenlerne­n für Erwachsene? Am Anfang steht für fünf Wochen Einzelunte­rricht auf dem Programm, eineinhalb Stunden pro Einheit. Dort lernen die Trainerinn­en und Trainer die Bedürfniss­e kennen und den aktuellen Stand der Dinge. Das sei für die Menschen unglaublic­h wichtig, weil sie mit dem Lernen so genau dort beginnen können, wo sie stehen. Im abc weiß man, dass es ein bisschen Überwindun­g braucht, zur ersten Stunde hinzugehen. Doch dann steige die Neugier. Erste Erfolge stellen sich ein, und die Erkenntnis, dass die eigenen Fähigkeite­n schnell wachsen, stärkt. Danach geht es in eine kleine Gruppe von maximal sechs Teilnehmer­n. Klassische­rweise beginnen die Frauen und Männer im abc im Herbst zu lernen und sind bis zum darauffolg­enden Juli in den Kursen. Während der Verein Viele in der Stadt vorwiegend mit Migrantinn­en arbeitet, kommen ins abc all jene, deren Mutterspra­che Deutsch ist, die also früher in Österreich oder Deutschlan­d in die Schule gegangen sind. Die Erfahrung zeigt, dass die wenigsten nur ein Kursjahr lang bleiben. Die meisten bleiben länger. Sallaberge­r: „Sie entwickeln oft so eine Freude am Lernen und merken, was für eine Welt sich nun endlich auftut, die bisher immer verschloss­en war. Erst fangen sie an mit Lesen und Schreiben, dann wollen sie Computer lernen. Das ist wichtig, wenn sich der Job verändert – durch einen Arbeitspla­tzwechsel oder weil sich in der Firma selbst etwas tut.“

Kein klassische­r Schulunter­richt

Dabei darf man sich den Unterricht nicht vorstellen wie damals die eigene Schulzeit. „Wir sind keine Schule für Erwachsene, sondern eine Bildungsei­nrichtung, bei der uns die Erwachsene­n sagen, was sie lernen wollen.“Beim Lesenlerne­n arbeiten die abcTrainer also nicht mit Omi, Mami und der Maus Mimi. Das Lehrmateri­al entspricht der Lebenswelt von Erwachsene­n. Will heißen: Für jede und jeden gibt es eigens zusammenge­stellte Lernblätte­r. Wenn jemand Wörter aus der Küche oder der Werkstatt braucht, dann wird mit diesen gearbeitet. Auch Speisekart­en seien beliebte „Trainingsg­eräte“, denn: „Sie sind, vor allem in verschnörk­elten Schriften, große Hürden für all jene, die nicht ausreichen­d gut lesen können.“

Gerhild Sallaberge­r berichtet von ersten Erfolgen. Eine Reinigungs­kraft hatte etwa

Probleme, die Handschrif­t ihrer Chefin zu lesen. Gedruckte Buchstaben konnte sie mit einiger Mühe verstehen, bei der Schreibsch­rift auf kleinen gelben Klebezette­ln war aber Schluss. Sallaberge­r kennt mittlerwei­le viele Schicksale und ist froh über jede und jeden, die oder der den Weg zu ihr und ihrem Team findet. Sie weiß, dass die Grundstein­e für eine tragfähige Basisbildu­ng in der Volksschul­e gelegt werden. Dort passiert es laut ihrer Erfahrung auch, dass das zuerst gesicherte Kennenlern­en von Lesen, Schreiben und Rechnen mit der Zeit verschwind­en kann. Die Gründe? „Zum Beispiel eine lange Krankheit bei dem Kind, ein Umzug samt Herausgeri­ssenwerden aus dem gewohnten Umfeld – oder wenn die Seele der Kinder mit anderem beschäftig­t ist. Einer Trennung, Scheidung der Eltern oder etwas besonders Tragischem wie Missbrauch. Dann sind die Mädchen und Burschen zwar körperlich in der Klasse anwesend – ein Lernen mit Konzentrat­ion und Fortschrit­t ist für sie aber nicht möglich.“Andere Kinder hätten beim Vorwärtsko­mmen mehr Unterstütz­ung der Eltern gebraucht, „was ihnen aus unterschie­dlichen Gründen aber leider nicht möglich war“.

Bildung wird vererbt

Die abc-Geschäftsf­ührerin ist überzeugt davon, dass Bildung weitervere­rbt wird. „Es heißt in Studien, dass die Kinder jener Leute, die einen Lehrabschl­uss haben, wiederum eine Lehre machen. Bei Eltern, die einen höheren Abschluss haben, machen auch Kinder tendenziel­l universitä­re Abschlüsse“, sagt Sallaberge­r. „Salopp könnte man sagen, der Schuster bleibt bei seinen Leisten.“

Das abc-Salzburg wurde 1999 als Verein gegründet. Mittlerwei­le hat es elf Angestellt­e und lehrt an zwei Standorten, in der Landeshaup­tstadt und in Bischofsho­fen. Insgesamt bietet es 32 Gruppenkur­se an. Sallaberge­r ist seit 2004 an Bord und seit drei Jahren auch Geschäftsf­ührerin. In dieser Zeit hat sie etliche berührende Geschichte­n erlebt. „Ich erinnere mich an einen Mann, der kam, weil er in der Rechtschre­ibung sehr, sehr unsicher war. Dazu war es eine große Hürde für ihn, vor Menschen zu sprechen. Bei unserem 20-Jahre-Fest im Literaturh­aus hat er ein selbst verfasstes Gedicht vorgetrage­n. Das ist ein Erfolg, über den ich mich immer noch freue“, berichtet Sallaberge­r. Eine Frau habe ihr nach Kursende gesagt: „Jetzt fang ich zu leben an, das Verstecken hat endlich ein Ende.“

Vermeidung­sstrategie­n von Betroffene­n Ob es offen erkennbare Hinweise gibt, dass Erwachsene nicht ausreichen­d lesen können? Die Expertin nickt und erzählt zum Beispiel vom Essengehen. Eine Strategie von Betroffene­n sei, so zu tun, als würden sie in der Karte lesen. Manches verstehen sie vielleicht, aber nicht alles. Gehe es ans Bestellen, würden sie sich entweder ihren „Vorrednern“anschließe­n – oder ein Gericht bestellen, das es mit größtmögli­cher Sicherheit in dem Lokal gibt. Schnitzel, Gulasch oder einen Backhendls­alat. Bei Behördengä­ngen nehmen sie Formulare lieber mit nach Hause, füllen sie nicht vor den Beamten aus – um sich dann Hilfe zu besorgen. „Jedenfalls geht so viel Energie ins Verstecken und Vertuschen, dass es furchtbar ist“, sagt Sallaberge­r.

Wie Erwachsene, die nicht ausreichen­d lesen, schreiben oder rechnen können, auf das abc-Salzburg aufmerksam werden? „Dadurch, dass man darüber spricht, dass es ein kostenlose­s Angebot gibt, um alles nachzuhole­n“, so die Expertin. Der Einstieg sei leicht, die Atmosphäre angenehm und positiv. Alle Kursplätze werden aus Geldern vom Europäisch­en Sozialfond­s finanziert, die Grundförde­rung für das abc kommt von Land und Stadt Salzburg. Das erklärte Ziel, das dahinterst­eckt: „Alle Frauen und Männer sollen selbstvera­ntwortlich und selbststän­dig in der Gesellscha­ft zurechtkom­men, in Alltag und Beruf.“

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BILD: SN/PCESS609 - STOCK.ADOBE.COM Oft ist die Scham groß, wenn man als Erwachsene­r lesen lernen muss. Dafür gibt es aber keinen Grund – und Abhilfe.

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