Erwachsene lernen lesen
Gründe gibt es viele, warum jemand nicht gut genug lesen oder schreiben kann, um den Alltag zu meistern. Fest steht, dass auch Erwachsene dieses Basiswissen unkompliziert erwerben können.
Der Gang in den Keller, eine Qual. Die Unsicherheit geht Stufe um Stufe mit. Ist eine Kuh auf dem Milchpackerl abgebildet, das der Koch braucht? Hoffentlich. Denn lesen kann die Küchenhelferin nicht, die die Milch holen soll. Obwohl sie erwachsen ist.
So wie dieser Frau geht es etwa 15 von 100 Erwachsenen. Sowohl in Salzburg als auch im übrigen Land ist das die Quote von Menschen, die nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen können. Obwohl sie die Schule abgeschlossen haben. Doch das Wissen aus dieser Zeit ist bei ihnen verschüttgegangen. „Die Scham, dass man entdeckt wird oder dass man Fehler macht, die man nicht machen sollte, bewirkt, dass diese Leute sich mehr und mehr zurückziehen.
Sie geben genau darauf acht, dass sie nicht in Situationen kommen, in denen sie vor anderen etwas lesen oder schreiben müssen. Das ist ein unglaublicher Stress und eine riesengroße Belastung.“Das sagt Gerhild Sallaberger, Geschäftsführerin im Basisbildungszentrum abc in der Salzburger Lastenstraße. Statt den Kontakt mit Buchstaben und Zahlen zu vermeiden und die Tatsache zu verdrängen, dass man nicht mit ihnen umgehen kann, lädt sie Frauen und Männer ein, sich diese Fähigkeiten neu anzutrainieren. Und zwar kostenlos, denn der Unterricht im abc kostet nichts.
Wie geht Lesenlernen für Erwachsene? Am Anfang steht für fünf Wochen Einzelunterricht auf dem Programm, eineinhalb Stunden pro Einheit. Dort lernen die Trainerinnen und Trainer die Bedürfnisse kennen und den aktuellen Stand der Dinge. Das sei für die Menschen unglaublich wichtig, weil sie mit dem Lernen so genau dort beginnen können, wo sie stehen. Im abc weiß man, dass es ein bisschen Überwindung braucht, zur ersten Stunde hinzugehen. Doch dann steige die Neugier. Erste Erfolge stellen sich ein, und die Erkenntnis, dass die eigenen Fähigkeiten schnell wachsen, stärkt. Danach geht es in eine kleine Gruppe von maximal sechs Teilnehmern. Klassischerweise beginnen die Frauen und Männer im abc im Herbst zu lernen und sind bis zum darauffolgenden Juli in den Kursen. Während der Verein Viele in der Stadt vorwiegend mit Migrantinnen arbeitet, kommen ins abc all jene, deren Muttersprache Deutsch ist, die also früher in Österreich oder Deutschland in die Schule gegangen sind. Die Erfahrung zeigt, dass die wenigsten nur ein Kursjahr lang bleiben. Die meisten bleiben länger. Sallaberger: „Sie entwickeln oft so eine Freude am Lernen und merken, was für eine Welt sich nun endlich auftut, die bisher immer verschlossen war. Erst fangen sie an mit Lesen und Schreiben, dann wollen sie Computer lernen. Das ist wichtig, wenn sich der Job verändert – durch einen Arbeitsplatzwechsel oder weil sich in der Firma selbst etwas tut.“
Kein klassischer Schulunterricht
Dabei darf man sich den Unterricht nicht vorstellen wie damals die eigene Schulzeit. „Wir sind keine Schule für Erwachsene, sondern eine Bildungseinrichtung, bei der uns die Erwachsenen sagen, was sie lernen wollen.“Beim Lesenlernen arbeiten die abcTrainer also nicht mit Omi, Mami und der Maus Mimi. Das Lehrmaterial entspricht der Lebenswelt von Erwachsenen. Will heißen: Für jede und jeden gibt es eigens zusammengestellte Lernblätter. Wenn jemand Wörter aus der Küche oder der Werkstatt braucht, dann wird mit diesen gearbeitet. Auch Speisekarten seien beliebte „Trainingsgeräte“, denn: „Sie sind, vor allem in verschnörkelten Schriften, große Hürden für all jene, die nicht ausreichend gut lesen können.“
Gerhild Sallaberger berichtet von ersten Erfolgen. Eine Reinigungskraft hatte etwa
Probleme, die Handschrift ihrer Chefin zu lesen. Gedruckte Buchstaben konnte sie mit einiger Mühe verstehen, bei der Schreibschrift auf kleinen gelben Klebezetteln war aber Schluss. Sallaberger kennt mittlerweile viele Schicksale und ist froh über jede und jeden, die oder der den Weg zu ihr und ihrem Team findet. Sie weiß, dass die Grundsteine für eine tragfähige Basisbildung in der Volksschule gelegt werden. Dort passiert es laut ihrer Erfahrung auch, dass das zuerst gesicherte Kennenlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen mit der Zeit verschwinden kann. Die Gründe? „Zum Beispiel eine lange Krankheit bei dem Kind, ein Umzug samt Herausgerissenwerden aus dem gewohnten Umfeld – oder wenn die Seele der Kinder mit anderem beschäftigt ist. Einer Trennung, Scheidung der Eltern oder etwas besonders Tragischem wie Missbrauch. Dann sind die Mädchen und Burschen zwar körperlich in der Klasse anwesend – ein Lernen mit Konzentration und Fortschritt ist für sie aber nicht möglich.“Andere Kinder hätten beim Vorwärtskommen mehr Unterstützung der Eltern gebraucht, „was ihnen aus unterschiedlichen Gründen aber leider nicht möglich war“.
Bildung wird vererbt
Die abc-Geschäftsführerin ist überzeugt davon, dass Bildung weitervererbt wird. „Es heißt in Studien, dass die Kinder jener Leute, die einen Lehrabschluss haben, wiederum eine Lehre machen. Bei Eltern, die einen höheren Abschluss haben, machen auch Kinder tendenziell universitäre Abschlüsse“, sagt Sallaberger. „Salopp könnte man sagen, der Schuster bleibt bei seinen Leisten.“
Das abc-Salzburg wurde 1999 als Verein gegründet. Mittlerweile hat es elf Angestellte und lehrt an zwei Standorten, in der Landeshauptstadt und in Bischofshofen. Insgesamt bietet es 32 Gruppenkurse an. Sallaberger ist seit 2004 an Bord und seit drei Jahren auch Geschäftsführerin. In dieser Zeit hat sie etliche berührende Geschichten erlebt. „Ich erinnere mich an einen Mann, der kam, weil er in der Rechtschreibung sehr, sehr unsicher war. Dazu war es eine große Hürde für ihn, vor Menschen zu sprechen. Bei unserem 20-Jahre-Fest im Literaturhaus hat er ein selbst verfasstes Gedicht vorgetragen. Das ist ein Erfolg, über den ich mich immer noch freue“, berichtet Sallaberger. Eine Frau habe ihr nach Kursende gesagt: „Jetzt fang ich zu leben an, das Verstecken hat endlich ein Ende.“
Vermeidungsstrategien von Betroffenen Ob es offen erkennbare Hinweise gibt, dass Erwachsene nicht ausreichend lesen können? Die Expertin nickt und erzählt zum Beispiel vom Essengehen. Eine Strategie von Betroffenen sei, so zu tun, als würden sie in der Karte lesen. Manches verstehen sie vielleicht, aber nicht alles. Gehe es ans Bestellen, würden sie sich entweder ihren „Vorrednern“anschließen – oder ein Gericht bestellen, das es mit größtmöglicher Sicherheit in dem Lokal gibt. Schnitzel, Gulasch oder einen Backhendlsalat. Bei Behördengängen nehmen sie Formulare lieber mit nach Hause, füllen sie nicht vor den Beamten aus – um sich dann Hilfe zu besorgen. „Jedenfalls geht so viel Energie ins Verstecken und Vertuschen, dass es furchtbar ist“, sagt Sallaberger.
Wie Erwachsene, die nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen können, auf das abc-Salzburg aufmerksam werden? „Dadurch, dass man darüber spricht, dass es ein kostenloses Angebot gibt, um alles nachzuholen“, so die Expertin. Der Einstieg sei leicht, die Atmosphäre angenehm und positiv. Alle Kursplätze werden aus Geldern vom Europäischen Sozialfonds finanziert, die Grundförderung für das abc kommt von Land und Stadt Salzburg. Das erklärte Ziel, das dahintersteckt: „Alle Frauen und Männer sollen selbstverantwortlich und selbstständig in der Gesellschaft zurechtkommen, in Alltag und Beruf.“