„Merkel hat die Ukraine geopfert“
Bei ihrem ersten großen öffentlichen Auftritt als Ex-Kanzlerin sprach sich Angela Merkel frei von einer Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine. „Ich mache mir keine Vorwürfe, dass ich es nicht versucht hätte“, sagte sie am Dienstagabend im prachtvollen Saal des Berliner Ensembles. Zahlreiche Russland-Expertinnen und Russland-Kenner halten dagegen.
Unter ihnen Jörg Himmelreich, ehemaliger Mitarbeiter im Auswärtigen Amt der deutschen Bundesregierung und ehemaliges Mitglied der EU-Untersuchungskommission zum russisch-georgischen Krieg.
Beim NATO-Gipfel in Bukarest 2008 stellten sich Frankreich und Deutschland entgegen der Meinung der anderen NATO-Partner gegen einen raschen Beitritt Georgiens und der Ukraine. Merkel verteidigte am Dienstag diese Haltung. Die Ukraine sei damals wegen Korruption und Instabilität noch nicht bereit für eine rasche Aufnahme ins Militärbündnis gewesen. Zudem habe sie Putin nicht provozieren wollen. Dieser hätte wohl schon damals einen Krieg gegen die Ukraine losgetreten.
In Kiew herrscht heute die Meinung vor: Hätte sich Merkel 2008 nicht quergestellt, wäre Putin am 24. Februar 2022 nicht einmarschiert. Russland-Experte Jörg Himmelreich sieht das genauso: „Ich unterstreiche die Position von Kiew: Wäre die Ukraine damals Beitrittskandidat geworden, wäre Putin heute nicht einmarschiert.“Die Grundannahme der deutschen Russland-Politik, Putin möglichst nicht zu provozieren, habe sich als untauglich erwiesen. „Putin braucht keinen Anlass, um Kriege loszutreten“, sagt Himmelreich.
Der Experte verweist zudem auf den von Putin begonnenen Krieg 2008 in Georgien. Die russische Armee habe sich damals in desolatem Zustand befunden – das habe der Krieg zutage gefördert. Putin habe seine Armee erst danach modernisiert und aufgerüstet. Die Annahme Merkels, dass die Ukraine 2008 ein leichtes Opfer geworden wäre, hält Himmelreich daher für falsch.
Ins Feld führt er auch die deutsche Abhängigkeit von russischer Energie. Der Bau der Ostseepipeline
Nord Stream 2 wurde nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim unter Merkels Ägide besiegelt und begonnen – trotz lauten Widerstands osteuropäischer Partner wie der baltischen Staaten, Polens oder der Ukraine. Laut Himmelreich habe Merkel abermals „einen eigenen Weg zulasten Europas“durchgesetzt, Merkel habe die Strategie des „Germany first“verfolgt.
Merkel habe gewusst, dass Putin „Wirtschaft als Instrument seiner Außenpolitik benutzt“, doch habe ihr der Mut gefehlt, sich gegen die Energielobby zu stellen. „Sie hat die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland über die Interessen des gesamten Landes gestellt.“Merkel habe versäumt, die Energiewirtschaft zu diversifizieren – obschon sie habe wissen müssen, dass Putin bereit dazu ist, die europäische Sicherheitsarchitektur auch kriegerisch zu seinen Gunsten umzukrempeln. „Putin durfte die Energiepolitik als Instrument einsetzen, um Druck aufzubauen. Merkel hat die Ukraine gewissermaßen den wirtschaftlichen Interessen geopfert.“
„Putin durfte die Energiepolitik als Instrument einsetzen.“