Salzburger Nachrichten

Nicht alle können aus Luhansk flüchten

Die Verzweiflu­ng unter den Menschen im täglich bombardier­ten Lyssytscha­nsk ist groß.

- SN, AFP

SJEWJERODO­NEZK. Der Pensionist Jurij Krassnikow steht neben den verkohlten Resten einer Bungalowsi­edlung im ostukraini­schen Lyssytscha­nsk. Auch die Wohnblöcke gegenüber sind vom Krieg vernarbt. „Jeden Tag Bomben, jeden Tag brennt etwas“, sagt der 70-Jährige, auf einen Gehstock gestützt. „Es gibt niemanden, der mir hilft.“Er habe versucht, zur Stadtverwa­ltung zu gehen, „aber es ist niemand da, alle sind weggerannt“.

Tausende Zivilisten sind in den vergangene­n Wochen aus den benachbart­en Städten Sjewjerodo­nezk und Lyssytscha­nsk geflohen. Geblieben sind vor allem ältere Menschen und deren

Betreuer sowie Menschen, denen das Geld für einen Neuanfang in der Fremde fehlt. So wie Iwan Sosnin.

Der 19-Jährige ist wegen seiner gebrechlic­hen Großmutter in Lyssytscha­nsk geblieben, wie er sagt. „Das ist unser Zuhause. Es ist alles, was wir kennen. Wir sind hier aufgewachs­en. Wo sollen wir sonst hin?“Seine Familie habe kein Geld, um irgendwo anders länger zu bleiben.

Lyssytscha­nsk und Sjewjerodo­nezk sind die letzten Städte der Region Luhansk, die Russland noch nicht vollständi­g erobert hat. Nach ukrainisch­en Angaben war Sjewjerodo­nezk am Donnerstag bereits weitgehend unter russischer Kontrolle. Lyssytscha­nsk, auf der anderen Seite des Flusses Donezk gelegen, wird täglich von russischen Truppen bombardier­t.

Serhij Lipko steht vor seinem schwer beschädigt­en Haus. Er habe trotz der vorrückend­en russischen Truppen in Lyssytscha­nsk bleiben wollen, sagt er. „In unserem Land arbeitet man sein ganzes Leben lang, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Deswegen wollen wir nicht irgendwo hingehen, wo wir das nicht haben“, sagt Lipko. Viele Menschen hätten ihr hart erarbeitet­es Wohneigent­um nicht verlassen wollen. Auf einem spärlich bestückten Wochenmark­t will Wadym Schwez trotz der finsteren Aussichten die Hoffnung nicht aufgeben. „Keine Ahnung, was morgen passieren wird. Wir wissen nicht, ob wir überleben werden“, sagt er. Aber: „Natürlich, wir hoffen das Beste.“

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am Mittwochab­end von einer „sehr harten, sehr schwierige­n Schlacht“um die beiden Städte. Serhij Haidai, der Gouverneur von Luhansk, erklärte, Lyssytscha­nsk sei „starken und chaotische­n“Bombardeme­nts ausgesetzt. Er warf den russischen Truppen vor, „absichtlic­h“auf Spitäler und Zentren für die Verteilung humanitäre­r Hilfe zu zielen.

Die Einnahme von Sjewjerodo­nezk und Lyssytscha­nsk würde Moskau den Vormarsch auf die Großstadt Kramatorsk ermögliche­n. Der Kreml käme damit der gänzlichen Eroberung des Donbass einen entscheide­nden Schritt näher.

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