„Für Frauen gibt es oft keine Evidenz“
Expertinnen klagen über Datenmangel zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Medizin und fordern mehr Bewusstsein.
SALZBURG. An Covid-19 starben in Österreich mehr Männer. Betrachtet man jedoch die Long-Covid-Diagnosen, sind darunter mehr Frauen zu finden. Bei letalen Herzerkrankungen sind Frauen öfter betroffen – obwohl weit mehr Männer Herztransplantationen brauchen und Bypässe, Herzklappen und Stents eingesetzt bekommen. Bei Darmkrebs und Alkoholmissbrauch sind die Männer weit voran; Frauen hingegen bei der Magersucht sowie Schilddrüsenerkrankungen.
Aber: Wie es sich mit einzelnen Krankheitsrisiken bei Männern und Frauen genau verhält, dafür gebe es in Österreich viel zu wenige Daten, kritisiert Margarethe Hochleitner: Die Innsbrucker Kardiologin ist eine von nur zwei Gendermedizin-Professorinnen an einer heimischen Medizin-Uni.
Gendermedizin ist eine interdisziplinäre Sparte und beschäftigt sich sowohl mit den medizinisch-biologischen Unterschieden von Mann und Frau als auch mit den sozialen und gesellschaftlichen Differenzen und deren medizinischen Auswirkungen. Hochleitner: „Niedrige Bildung und große Armut machen krank. Das ist klar und sollte auch berücksichtigt werden.“Zudem sei laut Armutsbericht evident: „Die zehn Prozent der Reichsten und die zehn Prozent der Ärmsten in Österreich haben den gleich großen Unterschied in der Lebenserwartung wie Männer (aktuell 78,9 Jahre, Anm.) und Frauen (83,7 Jahre, Anm.) generell – nämlich rund fünf Jahre.“
Hochleitner betont, dass Frauen vom Gesundheitssystem nicht bewusst benachteiligt würden, „weil da niemand einen Profit davon hätte. Aber es gab lange Jahre ein Nichtzur-Kenntnis-Nehmen der Frauen. Schulmedizin wurde von Männern für Männer gemacht. Daher hat sie auch Männern besser genützt.“
Immer noch legendär ist Hochleitners Studie aus 1997: Sie hat analysiert, auf welche Art Männer und Frauen mit Herzinfarktverdacht in die Uniklinik Innsbruck gebracht wurden. Das Ergebnis war eindeutig: Alle Patienten, die auf dem schnellsten Weg, mittels Hubschrauber, transportiert wurden, waren Männer. Auch beim zweitschnellsten Weg, dem Transport mittels Notarztwagen, waren rund 80 Prozent der Patienten männlich. Hochleitner betont, dass die Art des Transports oft über Tod und Leben entscheide: „Wenn mich der Hubschrauber holt, wird sofort die Notaufnahme kontaktiert und es stehen ein Intensivbett und ein Reanimationsteam bereit.“Damit habe man ungleich bessere Chancen, als wenn man vom Nachbarn mit dem Auto in die Klinik gebracht werde oder gar noch selbst fahre, sagt sie.
Hochleitners Studie zitiert auch Aline Halhuber-Ahlmann bei ihren Vorträgen häufig. Der Leiterin des Frauengesundheitszentrums Salzburg ist es wichtig, bewusst zu machen, dass mehr Frauen an Herzerkrankungen sterben als Männer: „Weiters wird der Infarkt bei Frauen oft später erkannt; daher sterben auch gerade junge Frauen eher daran.“Hintergrund sei, dass sich das gängige Diagnoseschema an den Infarktsymptomen der Männer orientiere, aber die einschlägigen Schmerzen bei Frauen anders auftreten würden, „nämlich zwischen Arm, Nase und Nabel“, sagt Halhuber-Ahlmann.
Umgekehrt orientiere sich das Diagnoseschema bei Depressionen an den Frauen, weswegen männliche Depressionen oft unterdiagnostiziert seien: „Dabei verüben fast drei Mal mehr Männer Suizide als Frauen.“Depressionen bei Männern würden sich eher durch Ärgerlichkeit, Aggression, Schuldzuweisungen und Jähzorn ausdrücken – und häufig mit Alkohol verdrängt, sagt die Expertin. Sie wünscht sich zudem, dass mehr zur sexuellen Gesundheit von Frauen geforscht wird: „Bei Diabetes reden alle von der erektilen Dysfunktion der Männer. Dagegen gibt es Viagra. Aber wer fragt eine Diabetikerin beim medizinischen Gespräch, ob ihre Orgasmusfähigkeit beeinträchtigt ist? Das ist ein Skandal.“Zudem verweist sie auf eine US-Studie: „Da haben 30 Prozent der Frauen auf die Frage, wann Sex bei ihnen gut sei, geantwortet, dass das schon der Fall sei, wenn er nicht wehtut.“
Hochleitner fordert zudem, „dass alle Wahrheiten der Schulmedizin überprüft werden, ob sie in gleichem Maße auf Frauen und Männer zutreffen“. Das sei immer noch nicht flächendeckend erledigt. „Aber wir reden immer von evidenzbasierter Medizin. Die haben wir für Frauen oft nicht.“