G ener ation X Y ungelöst
Politische Generationen. Die heute regierende „Generation X“muss unser Wirtschaftsmodell radikal umbauen. Doch sie spürt schon den Druck der nachfolgenden „Generation Y“, die sich nicht mehr mit Kompromissen bei der Ökologie begnügen will.
In Europas Politik hat sich vielerorts ein Generationenwechsel vollzogen. In Deutschland wurde das besonders erkennbar mit dem Ende der 16-jährigen Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel: Die „Babyboomer“, zu denen die Jahrgänge 1946 bis 1964 gehören, räumen dort die politische Bühne. Die „Generation X“, die die Jahrgänge zwischen 1965 und 1980 umfasst, übernimmt das Regierungsruder. Dafür stehen Außenministerin Annalena Baerbock (Jahrgang 1980), Finanzminister Christian Lindner (1979) oder Wirtschaftsminister Robert Habeck (1969). Eine
neue Politikergeneration verändere das Land, konstatiert Anna Sauerbrey in ihrem Buch „Machtwechsel“(Rowohlt, 2022).
Wenn eine Generation jüngerer Politiker antritt, ist damit häufig die Hoffnung auf einen Aufbruch verknüpft. Das gilt besonders dann, wenn sich die Hoffnungsträger
von alten Politikmustern verabschieden. Dass in EU-Staaten wie Finnland und Estland jetzt junge Frauen an der Spitze der Regierung stehen, signalisiert, dass auch
politische Talente aus der weiblichen Hälfte der Bevölkerung ein Land kompetent führen können.
Frankreichs noch immer junger Präsident Emmanuel Macron verkörpert als liberaler Reformer einen Politiker-Typus, der das Links-Rechts-Schema hinter sich lassen
will. In Österreich ist zwar der Stern eines jungen Kanzlers schnell verglüht. Doch die Regierungskonstellation, die Konservative
und Grüne kombiniert und das Beste aus zwei verschiedenen Welten verheißt, bleibt ein neuer Pfad.
In Berlin bezeichnet sich die AmpelRegierung aus SPD, Grünen und FDP als „Koalition des Fortschritts“. Ein solches
Selbstbild mit gemeinsamem Narrativ ist der erste Schritt, wenn sich Politiker unterschiedlicher Herkunft als Generationseinheit verstehen sollen. Aus Gruppen von Gleichaltrigen werden „politische Generationen“, sobald es bei ihnen ein Gefühl gibt, dass sie Zeit-Genossen im Wortsinne sind:
Menschen, die aufgrund gleicher Erfahrungen verbindende Gemeinsamkeiten haben, also ähnlich denken und handeln.
Das Generationsbewusstsein ist besonders stark, wenn eine Alterskohorte von
politischen Schlüsselereignissen geprägt ist. Dazu zählen ohne Zweifel die Zäsur von 1945, die „Stunde Null“nach dem Zweiten
Weltkrieg, und der Protest von 1968, Chiffre für eine globale Jugendrevolte. Bewusstseinsbestimmend sind auch die Zeitenwende von 1989, das Ende des Kalten Krieges,
und die Zeitenwende von 2022 – das Ende des Endes im Kalten Krieg aufgrund von Russlands Überfall auf die Ukraine.
Die Nachkriegsgeneration wurde vom Willen angetrieben, die persönlichen Existenzgrundlagen wieder aufzubauen und zu sichern. Nach Nazibarbarei und KriegsChaos waren die Angehörigen dieser Generation aller Ideologie abhold. Bei vielen von ihnen gab es eine Abneigung dagegen, sich
großen Organisationen und ihren Programmen anzuschließen. Die Konzentration auf den materiellen Wiederaufbau und das
Praktisch-Private hatte freilich eine Kehrseite: Eine kritische Aufarbeitung der NSVergangenheit wurde von Deutschen und Österreichern vorerst versäumt.
Diese Altersgruppe ist als stille oder als skeptische Generation beschrieben worden.
Ihre antiideologische Einstellung spiegelt sich in Alfred Anderschs Roman „Sansibar oder der letzte Grund“(1957). Die Hauptfigur Gregor erkennt bei der Betrachtung der Holzplastik, die vor dem Zugriff der Nazis
gerettet werden soll, zunächst sich selbst. Der „lesende Klosterschüler“erscheint versunken in Texte, „auf die es ankommt“. Durch genaueres Hinschauen entdeckt Gregor aber nicht den versunkenen, sondern den aufmerksam und kritisch Lesenden. So
glaubt Gregor schließlich im Lesenden einen erkannt zu haben, der „ohne Auftrag“lebt, der sich also den Ideologien nicht unterwirft, sondern einzig auf seine Freiheit pocht.
Auf die skeptische Generation der politisch-ideologischen Ernüchterung folgte in den 1960er-Jahren eine Generation der Kritik, der Rebellion und der Ideologisierung. Bei diesen Jüngeren bestimmten nicht mehr die Erfahrungen von Nazidiktatur und Krieg die politische Orientierung. Bei ihnen stand auch nicht mehr die Existenzsicherung im Vordergrund, weil durch das Wirtschaftswunder das Ziel von Wohlstand
bereits erreicht war. Die „68er“maßen vielmehr das Bestehende an den weiter gesteckten Zielen eines besseren Lebens. Die politische Utopie hatte nun Hochkonjunktur. Weltweit gerieten die herrschenden
Der Hass lähmt
das Leben, die Liebe lässt es frei.
Ikone der 68er-Rebellen, im Angesicht
eskalierender Repression in den USA
Autoritäten und Zustände unter Beschuss.
Begonnen hatte diese Protestbewegung in den USA mit dem Kampf um die Gleichberechtigung der Schwarzen. In vielen Ländern rollte auf den Straßen bald eine Welle
von Demonstrationen gegen den Krieg der US-Amerikaner in Vietnam. In Paris und in Berlin protestierten Studenten gegen erstarrte Strukturen speziell an den Universitäten und in der Gesellschaft insgesamt. Vor allem in der deutschen Bundesrepublik
befeuerte die Kritik an der mangelnden Aufklärung über die Naziverstrickung das Aufbegehren. Damit entbrannte ein scharfer Konflikt zwischen den „45ern“und den „68ern“, zwischen der Vätergeneration und ihren Kindern.
Jochen Schimmang berichtet von den Hoffnungen, die damit verbunden gewesen sind, 1968 etwa zwanzig Jahre alt zu sein,
und vom Altern dieser Hoffnungen. Sein Buch „Der schöne Vogel Phönix“(1979) erzählt eine individuelle Geschichte, die zugleich eine kollektive ist. Der Autor teilt die Euphorie der „68er“-Generation, ihren
Hang zu großen Entwürfen. Aber er erkannte nach etlicher Zeit, dass sich die Rebellierenden vielfach in einen Elfenbeinturm verstiegen hatten. Er bemerkte, „dass der Riss zwischen Anspruch und Realität jeden Tag
ein bisschen größer wurde“. Am Ende stand auch bei diesem „68er“die Desillusionierung.
Dennoch wäre es zu pauschal, von einem politischen Scheitern der Protestbewegung zu sprechen. Die Revolte von 1968 gab vielmehr vielerorts den Anstoß zu Reformen. In der Bundesrepublik Deutschland kam mit Willy Brandt der erste SPD-Kanzler ins
Amt, der dazu aufrief, „mehr Demokratie zu wagen“. In Österreich kam unter Bundeskanzler Bruno Kreisky eine große Bildungsreform in Gang. Auch der Aufschwung ökologischen Denkens bis hin zur Gründung grüner Parteien ist ein fortwirkendes Erbe der Protestszene.
Vom Drang der „68er“, mit politischem Engagement die Welt zu verändern, ist die „Generation X“als deren Nachfolgerin abgerückt. Sie steht mit der Entpolitisierung
und Entideologisierung den Werten der skeptischen Generation der Nachkriegszeit
nahe. Nach den Beobachtungen von Florian Illies zählte für das Gros seiner Generation
beim Politisch-Erwachsenwerden während der 1990er-Jahre vor allem das Private,
nämlich das berufliche Fortkommen und die eigene Familie. Diese Konsum-Kids wollten hedonistisch das Leben genießen, heißt es. Deshalb hat Illies sie in seinem Buch „Generation Golf“(2001) nach einer Automarke benannt. Die Lebensphilosophie seiner Generation bringt der Autor auf diesen Nenner: „Wir glauben, dass Gesellschaft funktioniert, ohne dass man etwas dafür
tun muss (...) Die Suche nach dem Ziel hat sich erledigt.“
Zwei Jahrzehnte später findet Nicolas Richter dieses Porträt plausibler denn je. Der Journalist von der „Süddeutschen Zeitung“bezeichnet die Angehörigen seiner
grüne deutsche Außenministerin, nach Russlands Angriff auf die Ukraine
Generation heute als „Die Sorglosen“. 1992
hat Richter Matura gemacht – in jenem Jahr, als die UNO zum ersten „Erdgipfel“nach Rio de Janeiro eingeladen hat. Er und seine
Altersgenossen waren wohl wie keine Generation vor ihr von der Jugend an über alles informiert, auch über globale Umweltprobleme. Doch zum Kampf gegen den Klimawandel oder zur Korrektur des eigenen Lebensstils konnten sie sich nicht aufraffen. Sie blieben individualistisch, geprägt von
Wohlstand und Wachstum. Richter resümiert: „Der Kalte Krieg war vorbei. Man rief das Ende der Geschichte aus. Die Umwelt geriet aus dem Blickfeld.“
Diese Abfolge politischer Generationen kann historische Umbrüche vor Augen führen. Aber oft wird dabei eine laute, diskursprägende Minderheit als Stimme einer ganzen Generation geschildert, während die leise Mehrheit womöglich anders tickt und keineswegs dem Etikett entspricht, das ihr aufgeklebt wird. Eine Generation ist selten
homogen: Die jüngeren Ostdeutschen etwa sind stark geprägt vom Mauerfall 1989 und
den folgenden Wendejahren. Die Westdeutschen dieser Altersgruppe haben in ihrem persönlichen Leben davon wenig bemerkt.
Was die „Generation X“wirklich eint, ist nach Ansicht von Nora Bossong die politische Sozialisation in einem Europa, „das
nicht mehr durch den Eisernen Vorhang getrennt war und Grenzen immer weniger
kannte“. In ihrem Buch „Die Geschmeidigen“(Ullstein-Verlag, Berlin 2022) beschreibt sie diese Altersgruppe als jene Generation, die noch zu einer radikalen Reform fähig ist, bevor die Klimakrise in ein Weltdesaster kippt.
Doch diese Zeit-Genossen stehen schon unter massivem Druck der Nachfolgegenerationen, die als „Generation Y“(Millennials) und als „Generation Z“(Zoomer) bezeichnet werden. Auf drastische Schritte im
Kampf gegen die Erderhitzung drängen die Demonstranten von „Fridays for Future“.
Auf bewusste Regelbrüche im Einsatz gegen das Artensterben setzt gar eine radikale Gruppe, die sich „Aufstand der letzten Generation“nennt.
Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.