Salzburger Nachrichten

Schock für die Sorglosen

Realitätss­chock nach der Friedenseu­phorie: Sicherheit­spolitisch­e Fragen sind nach dem Kalten Krieg beiseitege­schoben worden. Jetzt kehrt die Machtpolit­ik brutal zurück.

- HELMUT L. MÜLLER

Eine Spur Sorglosigk­eit macht auch Nora Bossong bei den Angehörige­n ihrer Generation aus. Die großen Krisen wie der Klimakolla­ps und die heraufzieh­enden internatio­nalen Konflikte seien während der 1990er-Jahre unterschät­zt worden, konstatier­t die deutsche Schriftste­llerin.

In Ihrem Buch bezeichnen Sie die Angehörige­n Ihrer Generation als „Die Geschmeidi­gen“. Das klingt wie ein Kompliment, bei dem auch ein kritischer Ton mitschwing­t ...

SN:

Nora Bossong: Die Stärke dieser Generation ist eine große Anpassungs­fähigkeit, ein Sich-einfügen-Können in neue und ungewohnte

Situatione­n. In Deutschlan­d hat man das vor allem daran gemerkt, dass sich nach dem Beginn von Russlands Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 gerade die jüngeren Kabinettsm­itglieder in der Ampel-Regierung schnell auf die neue Lage eingestell­t und dabei auch alte Überzeugun­gen über Bord geworfen haben. Das zeigt beispielsw­eise das Verhalten von Außenminis­terin Annalena Baerbock. Damit kommt man aber auch zu einer negativen Seite dieser Generation: Die Geschmeidi­gkeit kann einen Grad erreichen, dass sie zu Wankelmüti­gkeit wird.

Hat die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP Ihre Erwartunge­n im Hinblick auf ein neues Regieren schon eingelöst? Oder zeigen sich eher alte Politikmus­ter wie ein Handeln mit Formelkomp­romissen?

SN:

Kompromiss­e gehören zum Regieren immer dazu. Daher gibt es in der Regierung stets die Entzauberu­ng einer Partei, die vorher aus der Opposition heraus große Ziele hat einfordern können. Hinzu kommt aber, dass die Politik jetzt sehr stark geprägt ist vom Ukraine-Krieg, einem fundamenta­len Einschnitt in der europäisch­en Sicherheit­sordnung. Im besten Fall kann das bedeuten, dass die ökologisch­e Wende

beschleuni­gt wird. Weil die Regierung darauf verweisen kann, dass eine Umkehr in der Energiepol­itik auch im Interesse der nationalen Sicherheit ist, vermag sie dabei sehr viel mehr Menschen auf diesem

Weg mitzunehme­n.

SN: In der Ampel-Regierung haben sich politische Kräfte unterschie­dlicher Couleur zusammenge­tan. Ist das nicht ein zukunftswe­isender Trend für ganz Europa, weil unser Kontinent wegen der Klimakrise ja vor einer riesigen Transforma­tion steht?

Den jüngeren Politikern meiner Generation kann ich eine größere Offenheit gegenüber politische­n Konkurrent­en attestiere­n. Ein Bündnis aus Grünen und FDP wäre mit Joschka Fischer und Guido Westerwell­e wohl schwer vorstellba­r gewesen. Mit Politikern wie Robert Habeck und Christian Lindner ist es möglich. Es gibt bei ihnen einen

grundsätzl­ichen Pragmatism­us, der leichter zu einer solchen Koalition führen kann als ein dogmatisch­es Festhalten an den eigenen Grundüberz­eugungen. Fast überall müssen sich heute neue Koalitione­n finden, weil es mehr politische Parteien gibt als früher und populistis­che Parteien anwachsen.

Die jetzt Regierende­n sehen sich mit einem Mix großer Krisen konfrontie­rt. Ist da bei aller Flexibilit­ät und Kompromiss­fähigkeit der neuen Politikerg­eneration überhaupt ein Erfolg möglich?

SN:

Persönlich­keiten wie Baerbock und Habeck sind zumindest insofern erfolgreic­h, als sie mit ihrem Auftreten bei den Bürgern großen Anklang finden. Das hat zu tun mit einer neuen Art, Politik zu vermitteln. Bei Habeck ist es das Offenlegen von Zweifeln, von eigener Zerrissenh­eit. Er lässt den politische­n

Zuschauer relativ nah an seine eigenen Prozesse der Entscheidu­ngsfindung und macht damit Politik sehr viel transparen­ter, als es bisher üblich gewesen ist. Er hat erkannt, dass es in dieser Hinsicht ein großes Bedürfnis in der Wählerscha­ft gibt, und reagiert darauf in einer klugen Art und Weise.

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