Ein anatomisches Kinowunder
Pornografischer Urknall. Am 12. Juni 1972 hatte der Film „Deep Throat“Premiere. Der wohl namhafteste Porno aller Zeiten erzählt von einer Ära, in der Sexualität im Kino pure Rebellion war – und ein lukrativer wie kreativer Trend.
Sie will Glocken läuten hören, Dämme brechen und Bomben hochgehen lassen, erklärt die junge Linda ihrem Arzt – Sex mache ihr durchaus Spaß, aber die volle Befriedigung habe sie noch nie erreicht. Der Mediziner untersucht die frustrierte Frau und stößt auf eine anatomische Anomalie: Lindas Klitoris sitzt nicht etwa an gewohnter Stelle, sondern in ihrem Rachen. Und so bietet sich auch
gleich eine Lösung für ihr Problem: Linda kann durch Oralsex zum Orgasmus kommen! Gleich vorweg: Einen Oskar für das raffinierteste Drehbuch hat der Streifen mit oben beschriebener Handlung nicht bekommen.
Und doch schlug er ein wie die Bombe, welche die Hauptdarstellerin sexuell für sich herbeisehnt.
„Die Schwertschluckerin“sollte der Film aus dem Jahr 1972 zunächst heißen, aber Regisseur Gerard Damiano hatte eine bessere Idee: „Deep Throat“, quasi „tiefer Rachen“– wegen der speziellen diesbezüglichen Fähigkeiten von Hauptdarstellerin Linda Boreman alias „Linda Lovelace“. Damiano hatte zuvor als Frisör
gearbeitet und in Gesprächen mit seinen Kundinnen von ihrem unerfüllten Liebesleben erfahren. Dass seine Geschichte um eine Frau auf der Suche nach dem sexuellen Höhepunkt ein pornografischer Film werden würde, war quasi den Umständen geschuldet: „Damals war das das einzige Medium, in dem ein unabhängiger Filmemacher arbeiten konnte“, erklärte er.
„Deep Throat“wurde zu einer Sensation, das prüde
Amerika sah einer sexuellen Kinorevolution entgegen. „Es ist für die Leute heute schwer vorstellbar, wie befreiend das war – oder schrecklich, je nach Einstellung“, meinte Underground-Regisseur John Waters. Plötzlich war Pornografie nicht
mehr etwas für versteckte Schmuddelkinos: Der auf seine
Art durchaus nicht unkreative und unwitzige Film lockte Pärchen an, jüngere wie ältere Neugierige – und zahlreiche Prominente.
Jack Nicholson, Johnny Carson und Truman Capote sahen den Film, sogar Vizepräsident Spiro Agnew soll eine Privatvorführung von Frank Sinatra
bekommen haben. Der Titel wurde zu einem Begriff für die Sexualpraktik, zu der es heute
von Frauenzeitschriften Anleitungen gibt – und für den FBI-Mitarbeiter Mark Felt, der als Informant in der Watergate-Affäre den Decknamen „Deep Throat“nutzte. Oder besser gesagt: von Journalisten „umgehängt“bekam. Pornografie wurde so salonfähig, dass Ralph Blumenthal im „New York Times Magazine“das Phänomen in einem prägenden Artikel mit dem Titel „Porno Chic“beleuchtete.
Freilich war „Deep Throat“nicht der erste pornografische Film der US-Geschichte. Nachdem seit den Dreißigern durch den sogenannten „Hays Code“die Darstellung von Sexualität in Studiofilmen so weit reguliert war, dass weder nackte Körper noch beispielsweise „gerechtfertigte“außereheliche Beziehungen
gezeigt werden durften, lockten findige unabhängige Filmemacher ab den Fünfzigern mit gewagteren Inhalten: Es gab Nudistencamp-Filme und sogenannte „Nudie Cuties“, in denen nackte Menschen bewundert werden konnten; Ende der Sechziger entstanden
immer explizitere „Loops“– zirka zehnminütige Stumm-Kurzfilme, die in einschlägigen Kinos in der Schleife liefen. Tatsächlicher Sex fand über Aufklärungsfilme wie „Pornography in Denmark“den Weg ins Kino, weil die vermeintlich lehrreich waren, und
Andy Warhol zeigte 1969 in seinem „Blue Movie“echten Geschlechtsverkehr. Die Regisseure Howard
Ziehm und Michael Benveniste drehten 1970 mit „Mona: The Virgin Nymph“den ersten Porno-Spielfilm mit Kinovertrieb, und bis „Deep Throat“entstanden viele weitere Sex-Langfilme.
Allerdings war es gegen das Gesetz, „obszönes Material“herzustellen und zu verbreiten. Immer wieder wurden Sexfilmer verhaftet und vor Gericht gebracht, mitunter unter absurd anmutenden Anklagen wie der „Verschwörung zum Oralverkehr“– Oralsex war eine Straftat, und die Planung einer solchen konnte mit mehreren Jahren Gefängnis geahndet
werden. Kein Wunder also, dass die Pornofilmer anonym bleiben wollten und oft unter Pseudonymen wie „Harry Hopper“(Howard Ziehm) oder „Jerry Gerard“ (Gerard Damiano) auftraten. Und es waren nicht nur
finanzielle Gründe, die das Geschäft antrieben: Die Pornowelle war auch Ausdruck einer Rebellion. „Ich
wollte mir vom Staat nicht vorschreiben lassen, wie mein Sexleben auszusehen habe“, meinte Ziehm.
Aber natürlich war das Geld auch ein guter Antrieb. Bei Produktionskosten von unter 25.000 USDollar hat „Deep Throat“angeblich 600 Millionen Dollar eingespielt – wobei Filmkritiker Roger Ebert darauf hinwies, dass man dieser Zahl nicht trauen könne, weil die Mafia, die einen Großteil der Pornokinos betrieb, mit den angeblichen Einnahmen Gelder aus Drogen und Prostitution verschleiern konnte. Auch die „Deep Throat“-Finanzierung stammte von einer Mafiafamilie, und FBI-Agent Bill Kelly wurde von einem Informanten darüber unterrichtet, dass man die vielen „Deep Throat“-Einnahmen nicht mehr zählte, sondern wog.
„Deep Throat“wurde in mehreren Gegenden der USA
verboten, Hauptdarsteller Harry Reems wurde wegen seiner Mitwirkung gar zu fünf
Jahren Haft verurteilt – wobei das Urteil in zweiter Instanz aufgehoben wurde. Natürlich half die Aufregung der Popularität des Films nur noch mehr: „Der Staat wurde zur treibenden Kraft hinter der Öffentlichkeitsarbeit“, erklärte Reems’ Anwalt Alan Dershowitz.
Einer der größten Gegner des Films wurde später ausgerechnet Hauptdarstellerin Linda Boreman, die sich der Gruppierung „Women Against
Pornography“anschloss und angab, dass sie nicht freiwillig
bei „Deep Throat“mitgewirkt habe: Ihr Ehemann Chuck Traynor habe sie geschlagen
und gezwungen. Viele ihrer Kollegen und auch der „Deep
Throat“-Mitwirkenden stellten Letzteres infrage – aber sind sich größtenteils einig,
dass Traynor seine Frau tatsächlich misshandelt habe.
Porno-Produktionen wie „Behind the Green Door“oder „The Opening of Misty Beethoven“traten in die kassenträchtigen Fußstapfen von „Deep Throat“, und eine kurze Zeit glaubte man, dass expliziter Sex bald Teil des Mainstream-Kinos sein würde. Aber der Reiz des Neuen
und des Verbotenen verflog schnell – und als die Filme ab den Achtzigern immer billiger auf Video produziert
wurden, verschwand auch die Experimentierfreude der Regisseure. „Es wurde zu einer Fabrik“, meinte Damiano. „Man brauchte keine Filmemacher mehr.“
50 Jahre später bleibt „Deep Throat“ein Blick in eine Zeit, in der Sexualität im Kino noch etwas Aufregendes und Aufrüttelndes anhaftete. Und tatsächlich
hatte der Film auch eine feministische Komponente: Immerhin wurde hier die Existenz der Klitoris und des weiblichen Orgasmus ins Zentrum gerückt. „Es
war an der Zeit, zu sagen, dass Sex etwas Schönes ist, der menschliche Körper etwas Schönes ist“, erklärte Damiano seine Absichten. „Und dass man sich deswegen wirklich nicht schämen müsse.“