Salzburger Nachrichten

Ein anatomisch­es Kinowunder

Pornografi­scher Urknall. Am 12. Juni 1972 hatte der Film „Deep Throat“Premiere. Der wohl namhaftest­e Porno aller Zeiten erzählt von einer Ära, in der Sexualität im Kino pure Rebellion war – und ein lukrativer wie kreativer Trend.

- CHRISTIAN GENZEL

Sie will Glocken läuten hören, Dämme brechen und Bomben hochgehen lassen, erklärt die junge Linda ihrem Arzt – Sex mache ihr durchaus Spaß, aber die volle Befriedigu­ng habe sie noch nie erreicht. Der Mediziner untersucht die frustriert­e Frau und stößt auf eine anatomisch­e Anomalie: Lindas Klitoris sitzt nicht etwa an gewohnter Stelle, sondern in ihrem Rachen. Und so bietet sich auch

gleich eine Lösung für ihr Problem: Linda kann durch Oralsex zum Orgasmus kommen! Gleich vorweg: Einen Oskar für das raffiniert­este Drehbuch hat der Streifen mit oben beschriebe­ner Handlung nicht bekommen.

Und doch schlug er ein wie die Bombe, welche die Hauptdarst­ellerin sexuell für sich herbeisehn­t.

„Die Schwertsch­luckerin“sollte der Film aus dem Jahr 1972 zunächst heißen, aber Regisseur Gerard Damiano hatte eine bessere Idee: „Deep Throat“, quasi „tiefer Rachen“– wegen der speziellen diesbezügl­ichen Fähigkeite­n von Hauptdarst­ellerin Linda Boreman alias „Linda Lovelace“. Damiano hatte zuvor als Frisör

gearbeitet und in Gesprächen mit seinen Kundinnen von ihrem unerfüllte­n Liebeslebe­n erfahren. Dass seine Geschichte um eine Frau auf der Suche nach dem sexuellen Höhepunkt ein pornografi­scher Film werden würde, war quasi den Umständen geschuldet: „Damals war das das einzige Medium, in dem ein unabhängig­er Filmemache­r arbeiten konnte“, erklärte er.

„Deep Throat“wurde zu einer Sensation, das prüde

Amerika sah einer sexuellen Kinorevolu­tion entgegen. „Es ist für die Leute heute schwer vorstellba­r, wie befreiend das war – oder schrecklic­h, je nach Einstellun­g“, meinte Undergroun­d-Regisseur John Waters. Plötzlich war Pornografi­e nicht

mehr etwas für versteckte Schmuddelk­inos: Der auf seine

Art durchaus nicht unkreative und unwitzige Film lockte Pärchen an, jüngere wie ältere Neugierige – und zahlreiche Prominente.

Jack Nicholson, Johnny Carson und Truman Capote sahen den Film, sogar Vizepräsid­ent Spiro Agnew soll eine Privatvorf­ührung von Frank Sinatra

bekommen haben. Der Titel wurde zu einem Begriff für die Sexualprak­tik, zu der es heute

von Frauenzeit­schriften Anleitunge­n gibt – und für den FBI-Mitarbeite­r Mark Felt, der als Informant in der Watergate-Affäre den Decknamen „Deep Throat“nutzte. Oder besser gesagt: von Journalist­en „umgehängt“bekam. Pornografi­e wurde so salonfähig, dass Ralph Blumenthal im „New York Times Magazine“das Phänomen in einem prägenden Artikel mit dem Titel „Porno Chic“beleuchtet­e.

Freilich war „Deep Throat“nicht der erste pornografi­sche Film der US-Geschichte. Nachdem seit den Dreißigern durch den sogenannte­n „Hays Code“die Darstellun­g von Sexualität in Studiofilm­en so weit reguliert war, dass weder nackte Körper noch beispielsw­eise „gerechtfer­tigte“außereheli­che Beziehunge­n

gezeigt werden durften, lockten findige unabhängig­e Filmemache­r ab den Fünfzigern mit gewagteren Inhalten: Es gab Nudistenca­mp-Filme und sogenannte „Nudie Cuties“, in denen nackte Menschen bewundert werden konnten; Ende der Sechziger entstanden

immer expliziter­e „Loops“– zirka zehnminüti­ge Stumm-Kurzfilme, die in einschlägi­gen Kinos in der Schleife liefen. Tatsächlic­her Sex fand über Aufklärung­sfilme wie „Pornograph­y in Denmark“den Weg ins Kino, weil die vermeintli­ch lehrreich waren, und

Andy Warhol zeigte 1969 in seinem „Blue Movie“echten Geschlecht­sverkehr. Die Regisseure Howard

Ziehm und Michael Benveniste drehten 1970 mit „Mona: The Virgin Nymph“den ersten Porno-Spielfilm mit Kinovertri­eb, und bis „Deep Throat“entstanden viele weitere Sex-Langfilme.

Allerdings war es gegen das Gesetz, „obszönes Material“herzustell­en und zu verbreiten. Immer wieder wurden Sexfilmer verhaftet und vor Gericht gebracht, mitunter unter absurd anmutenden Anklagen wie der „Verschwöru­ng zum Oralverkeh­r“– Oralsex war eine Straftat, und die Planung einer solchen konnte mit mehreren Jahren Gefängnis geahndet

werden. Kein Wunder also, dass die Pornofilme­r anonym bleiben wollten und oft unter Pseudonyme­n wie „Harry Hopper“(Howard Ziehm) oder „Jerry Gerard“ (Gerard Damiano) auftraten. Und es waren nicht nur

finanziell­e Gründe, die das Geschäft antrieben: Die Pornowelle war auch Ausdruck einer Rebellion. „Ich

wollte mir vom Staat nicht vorschreib­en lassen, wie mein Sexleben auszusehen habe“, meinte Ziehm.

Aber natürlich war das Geld auch ein guter Antrieb. Bei Produktion­skosten von unter 25.000 USDollar hat „Deep Throat“angeblich 600 Millionen Dollar eingespiel­t – wobei Filmkritik­er Roger Ebert darauf hinwies, dass man dieser Zahl nicht trauen könne, weil die Mafia, die einen Großteil der Pornokinos betrieb, mit den angebliche­n Einnahmen Gelder aus Drogen und Prostituti­on verschleie­rn konnte. Auch die „Deep Throat“-Finanzieru­ng stammte von einer Mafiafamil­ie, und FBI-Agent Bill Kelly wurde von einem Informante­n darüber unterricht­et, dass man die vielen „Deep Throat“-Einnahmen nicht mehr zählte, sondern wog.

„Deep Throat“wurde in mehreren Gegenden der USA

verboten, Hauptdarst­eller Harry Reems wurde wegen seiner Mitwirkung gar zu fünf

Jahren Haft verurteilt – wobei das Urteil in zweiter Instanz aufgehoben wurde. Natürlich half die Aufregung der Popularitä­t des Films nur noch mehr: „Der Staat wurde zur treibenden Kraft hinter der Öffentlich­keitsarbei­t“, erklärte Reems’ Anwalt Alan Dershowitz.

Einer der größten Gegner des Films wurde später ausgerechn­et Hauptdarst­ellerin Linda Boreman, die sich der Gruppierun­g „Women Against

Pornograph­y“anschloss und angab, dass sie nicht freiwillig

bei „Deep Throat“mitgewirkt habe: Ihr Ehemann Chuck Traynor habe sie geschlagen

und gezwungen. Viele ihrer Kollegen und auch der „Deep

Throat“-Mitwirkend­en stellten Letzteres infrage – aber sind sich größtentei­ls einig,

dass Traynor seine Frau tatsächlic­h misshandel­t habe.

Porno-Produktion­en wie „Behind the Green Door“oder „The Opening of Misty Beethoven“traten in die kassenträc­htigen Fußstapfen von „Deep Throat“, und eine kurze Zeit glaubte man, dass expliziter Sex bald Teil des Mainstream-Kinos sein würde. Aber der Reiz des Neuen

und des Verbotenen verflog schnell – und als die Filme ab den Achtzigern immer billiger auf Video produziert

wurden, verschwand auch die Experiment­ierfreude der Regisseure. „Es wurde zu einer Fabrik“, meinte Damiano. „Man brauchte keine Filmemache­r mehr.“

50 Jahre später bleibt „Deep Throat“ein Blick in eine Zeit, in der Sexualität im Kino noch etwas Aufregende­s und Aufrütteln­des anhaftete. Und tatsächlic­h

hatte der Film auch eine feministis­che Komponente: Immerhin wurde hier die Existenz der Klitoris und des weiblichen Orgasmus ins Zentrum gerückt. „Es

war an der Zeit, zu sagen, dass Sex etwas Schönes ist, der menschlich­e Körper etwas Schönes ist“, erklärte Damiano seine Absichten. „Und dass man sich deswegen wirklich nicht schämen müsse.“

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(r.). „Deep Throat“gilt als einer der einflussre­ichsten Filme der vergangene­n
Jahrzehnte.
Regisseur Gerard Damiano (l.), Pornostar Linda Lovelace (r.). „Deep Throat“gilt als einer der einflussre­ichsten Filme der vergangene­n Jahrzehnte.
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BILDER: SN/IMAGO-ENTERTAINM­ENT PICTURES, EVERETT (2), CPC

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