Fortschritt anders
Die britische „Financial Times“gilt als eines der Zentralorgane der kapitalistischen Marktwirtschaft. Es ist ketzerischer Umtriebe unverdächtig. Und doch schleichen sich selbst in London, der selbst ernannten Hauptstadt des Freihandels, da und dort Zweifel ein. FT-Kolumnist Simon Kuper beschäftigte sich kürzlich mit dem Fortschritt. Das ist ein Begriff, der mindestens seit Beginn des vorigen Jahrhunderts
gleichgesetzt wird mit dem heiligen Trio Aufschwung, Wachstum und
Wohlstand. Er verspricht eine bessere, hellere Zukunft.
Aber „wir haben die Idee des Fortschritts still und heimlich entsorgt“,
meint Kuper. Er hat recht. Fortschritt ist von gestern. Zumindest in seiner
marktwertorientierten Form. Er hat auch seine Versprechungen nicht recht erfüllt. Seit Langem weisen Untersuchungen von Soziologen und Ökonomen darauf hin, dass Zufriedenheit
und Lebensglück von Menschen keineswegs am zunehmenden Wohlstand ihrer Gesellschaften hängen.
Die neue Mission sei nicht Fortschritt, sondern Vermeidung von Desaster, persönlich und politisch, von der Bedrohung eines abgedrehten Diktators im Kreml über die noch viel größeren Gefahren der Erderwärmung bis zum sozialen Absturz.
Ob nicht angesichts des Abschieds vom profitgetriebenen Fortschrittsglauben der „europäische Traum“das derzeit reizvollste globale Ideal ist?
Laut FT-Kolumnisten entspricht es in etwa der US-Variante, nur mit weniger Einkommen, aber mehr Freizeit und kostenlosem Gesundheitssystem.
Selbst wenn unsere Enkel nicht reicher sein sollten als wir, könnten sie doch länger und glücklicher leben. Ihre
Aufgabe wäre nicht mehr, ihre Einkommen zu maximieren, sondern Wohlstand zu verbreiten und Armageddon zu vermeiden.
Ja, warum nicht?
Das wäre ein Fortschritt, nur anders.