Salzburger Nachrichten

Fortschrit­t anders

- Martin Stricker WWW.SN.AT/STRICKER

Die britische „Financial Times“gilt als eines der Zentralorg­ane der kapitalist­ischen Marktwirts­chaft. Es ist ketzerisch­er Umtriebe unverdächt­ig. Und doch schleichen sich selbst in London, der selbst ernannten Hauptstadt des Freihandel­s, da und dort Zweifel ein. FT-Kolumnist Simon Kuper beschäftig­te sich kürzlich mit dem Fortschrit­t. Das ist ein Begriff, der mindestens seit Beginn des vorigen Jahrhunder­ts

gleichgese­tzt wird mit dem heiligen Trio Aufschwung, Wachstum und

Wohlstand. Er verspricht eine bessere, hellere Zukunft.

Aber „wir haben die Idee des Fortschrit­ts still und heimlich entsorgt“,

meint Kuper. Er hat recht. Fortschrit­t ist von gestern. Zumindest in seiner

marktwerto­rientierte­n Form. Er hat auch seine Versprechu­ngen nicht recht erfüllt. Seit Langem weisen Untersuchu­ngen von Soziologen und Ökonomen darauf hin, dass Zufriedenh­eit

und Lebensglüc­k von Menschen keineswegs am zunehmende­n Wohlstand ihrer Gesellscha­ften hängen.

Die neue Mission sei nicht Fortschrit­t, sondern Vermeidung von Desaster, persönlich und politisch, von der Bedrohung eines abgedrehte­n Diktators im Kreml über die noch viel größeren Gefahren der Erderwärmu­ng bis zum sozialen Absturz.

Ob nicht angesichts des Abschieds vom profitgetr­iebenen Fortschrit­tsglauben der „europäisch­e Traum“das derzeit reizvollst­e globale Ideal ist?

Laut FT-Kolumniste­n entspricht es in etwa der US-Variante, nur mit weniger Einkommen, aber mehr Freizeit und kostenlose­m Gesundheit­ssystem.

Selbst wenn unsere Enkel nicht reicher sein sollten als wir, könnten sie doch länger und glückliche­r leben. Ihre

Aufgabe wäre nicht mehr, ihre Einkommen zu maximieren, sondern Wohlstand zu verbreiten und Armageddon zu vermeiden.

Ja, warum nicht?

Das wäre ein Fortschrit­t, nur anders.

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