Die Politik und der liebe Gott
Die Macht der Religion. Im Ukraine-Krieg zeigt sich drastisch die unselige Allianz zwischen Kreml und der orthodoxen Kirche. Doch auch in anderen Teilen der Welt war Religion immer wieder ein gefährlicher politischer Faktor – und ist es heute noch.
Für John Locke war die Sache klar: Die Kirche konnte keinen Anspruch erheben, in weltlichen Fragen und in den Angelegenheiten des Staates mitzumischen. Der Philosoph und Vordenker der Aufklärung fand es logisch, strikt zu unterscheiden zwischen „den Angelegenheiten der zivilen Regierung und jenen der Religion“. Locke schrieb diese Worte in seinem „Brief über die Toleranz“. Das war im Jahr 1689.
333 Jahre später scheint die Welt vom Ideal der Trennung von Staat und Religion so weit entfernt wie lange nicht. Auf drastische Weise zeigt sich das in diesen Tagen in der unheiligen Allianz des russischen Kriegstreibers Wladimir Putin mit Kyrill, dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Putins
Überfall auf die Ukraine als „metaphysischen Kampf“des Guten gegen den bösen Westen verteidigt.
Dabei herrschte zumindest im Westen in weiten Kreisen längst die Überzeugung, dass die Trennung von Staat und Kirche eine unumkehrbare Tatsache sei. Man übersah allerdings, dass das eine sehr eurozentristische Perspektive
war – und die Entwicklung in anderen Weltregionen eine ganz andere war als in Westeuropa.
Und sogar im Westen ist die Religion teilweise noch immer ein Machtfaktor. Das zeigt der Einfluss christlicher Fundamentalisten in den USA, wo es selbstverständlich
ist, dass ein neuer Präsident den Amtseid mit der Hand auf der Bibel ablegt. In den Vereinigten Staaten glauben auch heute noch Millionen Menschen lieber die biblische
Erzählung von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen als Charles Darwins Evolutionstheorie. Nach einer Studie aus 2019 neigen vier von zehn Amerikaner/-innen zur Ansicht, dass die Erde nicht älter als 10.000 Jahre ist.
An die Modernisierungstheorie, der zufolge mit wachsendem Wohlstand die Gesellschaft automatisch säkularer
werde, habe er nie geglaubt, sagt dazu der Salzburger Historiker Robert Kriechbaumer. Das möge zwar für Westeuropa zutreffen. Aber ein weltweites Phänomen sei die Säkularisierung nicht. Als aktuelle Beispiele nennt Kriechbaumer die Entwicklungen im islamischen Raum: Etwa die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan forcierte Rückkehr der Religion auf die politische Bühne der Türkei. Oder das
Agieren der fundamentalistischen Muslimbruderschaft – auch unter Migranten in Europa. Gerade in der islamischen Welt sei die Religion als sinnstiftender Faktor und als Handlungsanleitung für das Leben von großer Bedeutung. Aber nicht nur dort: „Es gibt auch in Indien einen sehr ausgeprägten Hindu-Fundamentalismus, der
politisch instrumentalisiert wird und sich gegen Muslime richtet“, sagt Kriechbaumer. Also: „Die Bedeutung der Religion für die Politik
hat nicht ab-, sondern zugenommen. Mitunter ist das vielleicht auch ein Protest, eine
Abwehrhaltung gegen das westliche Modell, das man als Fremdherrschaft, als intellektuelle und kulturelle Kolonisierung empfindet.“
In Russland wiederum orientiert sich Putin an der alten Tradition des russischen Cäsaropapismus
– also an der Vereinigung der weltlichen und geistlichen Macht in einer Hand. Die Orthodoxie sei im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche nie universal, sondern stets national ausgerichtet gewesen, sagt Politikwissenschafter Anton Pelinka. Erstaunlich sei, dass dieser Cäsaropapismus acht Jahrzehnte
Kommunismus überlebt habe und in Russland „der Marxismus-Leninismus so spurlos verschwunden ist. Die Sowjetunion ist diesbezüglich fast wirkungslos verpufft.“
Die Ideen John Lockes und der anderen Aufklärer, deren oberste Maxime der Gebrauch der eigenen Vernunft und die Trennung
weltlicher und geistlicher Macht war, konnten sich also nur in einem kleinen Teil der
Welt durchsetzen. Und selbst die westlichen Gesellschaften sind weiterhin gefordert – vor allem durch die Zuwanderung von muslimischen Migranten. Konflikte seien bei uns dann
programmiert, wenn sich unter den heimischen Muslimen die fundamentalistische Ansicht durchsetzen sollte, dass man den Koran wortwörtlich auslegen müsse, sagt Pelinka. Wobei er glaube, dass sich am Ende die moderaten
Kräfte durchsetzen werden: „Ich nehme an, dass der Islam bei uns einen ähnlichen Prozess durchmachen wird wie die christlichen Religionen.“
Denn wenn man eines recht sicher sagen kann, dann das: In Österreich sind der Religion als politischem Faktor enge Grenzen gesetzt. Welche Partei könnte überhaupt religiöse Themen vor ihren Karren spannen
– und wirklich davon profitieren? „Vermutlich
ist es nicht mehr die ÖVP“, sagt dazu Heidi Glück, Politikstrategin und einst Beraterin von Kanzler Wolfgang Schüssel. „Denn hier hat, spätestens seit der Ära Kurz, eine gewisse Entfremdung stattgefunden.“Das liege einerseits daran, dass die – formal christlichsoziale – Volkspartei in vielen Fragen stark nach rechts gerückt sei. „Und andererseits daran,
dass die katholische Kirche heute vor allem dann hörbar ist, wenn Caritas oder Diakonie oder ähnliche Organisationen sprechen. Und die stehen, etwa bei Armutsbekämpfung und Asyl, weit links von der Kirche – und vor allem auch links von der ÖVP.“Da gebe es noch am ehesten Berührungspunkte mit den Grünen, die aber klarerweise nicht gerade eine katholische Bewegung seien. „Am ehesten Mobilisierungspotenzial haben da Rechtspopulisten“, sagt Glück, und verweist etwa auf Wahlkampfauftritte Heinz Christian Straches mit Kruzifix. „Da lässt sich der Konnex herstellen zum christlichen Abendland, das im Gegensatz zur islamischen Gegenwelt steht“, sagt Glück.
Dass die Politik sich der Religion gnadenlos bedient, um ihre Ziele zu erreichen, ist freilich auch historisch nichts Neues. Dem Salzburger Kirchenhistoriker Dietmar Winkler fallen da viele Beispiele ein – etwa die französischen Könige des 14. Jahrhunderts, welche den Papst aus Rom nach Avignon zwangen, um ihn besser im Griff zu haben. Und dann auch gleich den Templerorden brutal zerschlugen und ausplünderten. Oder viele Renaissance-Päpste, die sich einfach nur als weltliche Fürsten und Vertreter ihrer reichen Familien sahen und am Machtausbau des Kirchenstaats arbeiteten. „Oder der Amerikanische Bürgerkrieg: Da gab es einerseits die Gospels der Sklaven, die Jesus als Symbol ihrer Befreiung sahen. Und andererseits die Sklavenhalter, die Stellen aus
den Paulusbriefen zitierten, wo es heißt, man solle entlaufene Sklaven zu ihren Herren zurückschicken.“
All das funktioniere so gut, weil gerade die christliche Bibel ein über Jahrhunderte hinweg entstandenes Konvolut verschiedenster Autoren sei – aus der sich sehr leicht zur eigenen
Agenda passende Stücke herausbrechen ließen. Dafür gebe es sogar einen Begriff: Steinbruch-Exegese.