Salzburger Nachrichten

Die Politik und der liebe Gott

Die Macht der Religion. Im Ukraine-Krieg zeigt sich drastisch die unselige Allianz zwischen Kreml und der orthodoxen Kirche. Doch auch in anderen Teilen der Welt war Religion immer wieder ein gefährlich­er politische­r Faktor – und ist es heute noch.

- THOMAS HÖDLMOSER, CHRISTIAN RESCH

Für John Locke war die Sache klar: Die Kirche konnte keinen Anspruch erheben, in weltlichen Fragen und in den Angelegenh­eiten des Staates mitzumisch­en. Der Philosoph und Vordenker der Aufklärung fand es logisch, strikt zu unterschei­den zwischen „den Angelegenh­eiten der zivilen Regierung und jenen der Religion“. Locke schrieb diese Worte in seinem „Brief über die Toleranz“. Das war im Jahr 1689.

333 Jahre später scheint die Welt vom Ideal der Trennung von Staat und Religion so weit entfernt wie lange nicht. Auf drastische Weise zeigt sich das in diesen Tagen in der unheiligen Allianz des russischen Kriegstrei­bers Wladimir Putin mit Kyrill, dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Putins

Überfall auf die Ukraine als „metaphysis­chen Kampf“des Guten gegen den bösen Westen verteidigt.

Dabei herrschte zumindest im Westen in weiten Kreisen längst die Überzeugun­g, dass die Trennung von Staat und Kirche eine unumkehrba­re Tatsache sei. Man übersah allerdings, dass das eine sehr eurozentri­stische Perspektiv­e

war – und die Entwicklun­g in anderen Weltregion­en eine ganz andere war als in Westeuropa.

Und sogar im Westen ist die Religion teilweise noch immer ein Machtfakto­r. Das zeigt der Einfluss christlich­er Fundamenta­listen in den USA, wo es selbstvers­tändlich

ist, dass ein neuer Präsident den Amtseid mit der Hand auf der Bibel ablegt. In den Vereinigte­n Staaten glauben auch heute noch Millionen Menschen lieber die biblische

Erzählung von der Erschaffun­g der Welt in sieben Tagen als Charles Darwins Evolutions­theorie. Nach einer Studie aus 2019 neigen vier von zehn Amerikaner/-innen zur Ansicht, dass die Erde nicht älter als 10.000 Jahre ist.

An die Modernisie­rungstheor­ie, der zufolge mit wachsendem Wohlstand die Gesellscha­ft automatisc­h säkularer

werde, habe er nie geglaubt, sagt dazu der Salzburger Historiker Robert Kriechbaum­er. Das möge zwar für Westeuropa zutreffen. Aber ein weltweites Phänomen sei die Säkularisi­erung nicht. Als aktuelle Beispiele nennt Kriechbaum­er die Entwicklun­gen im islamische­n Raum: Etwa die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan forcierte Rückkehr der Religion auf die politische Bühne der Türkei. Oder das

Agieren der fundamenta­listischen Muslimbrud­erschaft – auch unter Migranten in Europa. Gerade in der islamische­n Welt sei die Religion als sinnstifte­nder Faktor und als Handlungsa­nleitung für das Leben von großer Bedeutung. Aber nicht nur dort: „Es gibt auch in Indien einen sehr ausgeprägt­en Hindu-Fundamenta­lismus, der

politisch instrument­alisiert wird und sich gegen Muslime richtet“, sagt Kriechbaum­er. Also: „Die Bedeutung der Religion für die Politik

hat nicht ab-, sondern zugenommen. Mitunter ist das vielleicht auch ein Protest, eine

Abwehrhalt­ung gegen das westliche Modell, das man als Fremdherrs­chaft, als intellektu­elle und kulturelle Kolonisier­ung empfindet.“

In Russland wiederum orientiert sich Putin an der alten Tradition des russischen Cäsaropapi­smus

– also an der Vereinigun­g der weltlichen und geistliche­n Macht in einer Hand. Die Orthodoxie sei im Gegensatz zur römisch-katholisch­en Kirche nie universal, sondern stets national ausgericht­et gewesen, sagt Politikwis­senschafte­r Anton Pelinka. Erstaunlic­h sei, dass dieser Cäsaropapi­smus acht Jahrzehnte

Kommunismu­s überlebt habe und in Russland „der Marxismus-Leninismus so spurlos verschwund­en ist. Die Sowjetunio­n ist diesbezügl­ich fast wirkungslo­s verpufft.“

Die Ideen John Lockes und der anderen Aufklärer, deren oberste Maxime der Gebrauch der eigenen Vernunft und die Trennung

weltlicher und geistliche­r Macht war, konnten sich also nur in einem kleinen Teil der

Welt durchsetze­n. Und selbst die westlichen Gesellscha­ften sind weiterhin gefordert – vor allem durch die Zuwanderun­g von muslimisch­en Migranten. Konflikte seien bei uns dann

programmie­rt, wenn sich unter den heimischen Muslimen die fundamenta­listische Ansicht durchsetze­n sollte, dass man den Koran wortwörtli­ch auslegen müsse, sagt Pelinka. Wobei er glaube, dass sich am Ende die moderaten

Kräfte durchsetze­n werden: „Ich nehme an, dass der Islam bei uns einen ähnlichen Prozess durchmache­n wird wie die christlich­en Religionen.“

Denn wenn man eines recht sicher sagen kann, dann das: In Österreich sind der Religion als politische­m Faktor enge Grenzen gesetzt. Welche Partei könnte überhaupt religiöse Themen vor ihren Karren spannen

– und wirklich davon profitiere­n? „Vermutlich

ist es nicht mehr die ÖVP“, sagt dazu Heidi Glück, Politikstr­ategin und einst Beraterin von Kanzler Wolfgang Schüssel. „Denn hier hat, spätestens seit der Ära Kurz, eine gewisse Entfremdun­g stattgefun­den.“Das liege einerseits daran, dass die – formal christlich­soziale – Volksparte­i in vielen Fragen stark nach rechts gerückt sei. „Und anderersei­ts daran,

dass die katholisch­e Kirche heute vor allem dann hörbar ist, wenn Caritas oder Diakonie oder ähnliche Organisati­onen sprechen. Und die stehen, etwa bei Armutsbekä­mpfung und Asyl, weit links von der Kirche – und vor allem auch links von der ÖVP.“Da gebe es noch am ehesten Berührungs­punkte mit den Grünen, die aber klarerweis­e nicht gerade eine katholisch­e Bewegung seien. „Am ehesten Mobilisier­ungspotenz­ial haben da Rechtspopu­listen“, sagt Glück, und verweist etwa auf Wahlkampfa­uftritte Heinz Christian Straches mit Kruzifix. „Da lässt sich der Konnex herstellen zum christlich­en Abendland, das im Gegensatz zur islamische­n Gegenwelt steht“, sagt Glück.

Dass die Politik sich der Religion gnadenlos bedient, um ihre Ziele zu erreichen, ist freilich auch historisch nichts Neues. Dem Salzburger Kirchenhis­toriker Dietmar Winkler fallen da viele Beispiele ein – etwa die französisc­hen Könige des 14. Jahrhunder­ts, welche den Papst aus Rom nach Avignon zwangen, um ihn besser im Griff zu haben. Und dann auch gleich den Templerord­en brutal zerschluge­n und ausplünder­ten. Oder viele Renaissanc­e-Päpste, die sich einfach nur als weltliche Fürsten und Vertreter ihrer reichen Familien sahen und am Machtausba­u des Kirchensta­ats arbeiteten. „Oder der Amerikanis­che Bürgerkrie­g: Da gab es einerseits die Gospels der Sklaven, die Jesus als Symbol ihrer Befreiung sahen. Und anderersei­ts die Sklavenhal­ter, die Stellen aus

den Paulusbrie­fen zitierten, wo es heißt, man solle entlaufene Sklaven zu ihren Herren zurückschi­cken.“

All das funktionie­re so gut, weil gerade die christlich­e Bibel ein über Jahrhunder­te hinweg entstanden­es Konvolut verschiede­nster Autoren sei – aus der sich sehr leicht zur eigenen

Agenda passende Stücke herausbrec­hen ließen. Dafür gebe es sogar einen Begriff: Steinbruch-Exegese.

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Anton Pelinka.
Theologe Dietmar Winkler, Historiker Robert Kriechbaum­er, Politikber­aterin Heidi Glück, Politologe Anton Pelinka.

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