Salzburger Nachrichten

Ein Sommer im Krieg

Kiew müht sich, in einen friedliche­n Alltag zurückzufi­nden. Aber noch bremsen der Schock von Butscha und die Angst vor einer Rückkehr der Bombenangr­iffe die Lebensfreu­de in der Hauptstadt.

- DMYTRO DURNJEW

KIEW. Wie üblich ertönt am frühen

Abend der Luftalarm. Aber in Darniza, einem Stadtteil von Kiew, klingen die Sirenen leise. Die Pensionist­en, die mit ihren Hunden Gassi gehen, scheinen sich von dem Alarm nicht aus der Ruhe bringen zu wollen. Und das obwohl erst Anfang Juni russische Raketen in eine Fabrik einschluge­n, nur vier Kilometer Luftlinie von Darniza entfernt.

Kiew war einer der ersten Schauplätz­e dieses Kriegs. Die Russen hatten die ukrainisch­e Hauptstadt fast eingekreis­t, mehrere Vororte erobert. Aber danach setzten ihnen die ukrainisch­e Artillerie und ukrainisch­en Stoßtrupps heftig zu. Ende März ließen die russischen Streitkräf­te von der Stadt ab. Aber Kiew hat noch immer Mühe, in einen friedliche­n Alltag zurückzufi­nden. Kiew bleibt Kriegshaup­tstadt.

Der Wohnbezirk Darniza liegt am Ostufer des Flusses Dnjepr und ist ähnlich hässlich wie Tausende andere Schlafstäd­te, die damals in der

Sowjetunio­n entstanden sind. Eine endlose Schachtelu­ng von Plattenbau­fassaden, manche wuchtige Türme, andere lang wie riesige Ozeandampf­er. Es gibt wenige Bäume, die bei der Sommerhitz­e Schatten spenden könnten.

Auch Witali bringt der Luftalarm nicht aus der Ruhe. Der Arzt schaut auf den Telegramka­nal der Stadtverwa­ltung. Darin steht, wann sich die Menschen in Sicherheit bringen sollten. Es erinnert ihn daran, dass seine Frau und die Kinder nun in Sicherheit sind. Sie leben jetzt mit Schwiegerm­utter, Schwägerin, Cousine und drei weiteren Kindern bei Gastfamili­en in Mainz. „Meine Älteste geht in den Kindergart­en, ein afghanisch­er Bub hat sich in sie

verliebt, er und die anderen Kinder fangen schon an, ukrainisch zu reden“, sagt Witali und lacht. Tatsächlic­h leidet er, die Jüngste fängt gerade an zu gehen – er ist nicht dabei.

Vor dem Krieg war Kiew eine Stadt voller Leben. Die öffentlich­en Plätze und Parks waren belebt, dort

promeniert­en, demonstrie­rten und musizierte­n die Kiewer. Oder sie tranken Kaffee. Auch in Darniza sind die Leute passionier­te Kaffeetrin­ker, täglich öffnen im Erdgeschoß der Plattenbau­ten die Cafés, die zu Beginn des Kriegs schließen mussten.

Witali trinkt seinen Cappuccino im zweistöcki­gen Café Lemberg Croissants. Dort wird schon am

Morgen ukrainisch­e Popmusik gespielt, die Croissants aber schmecken

etwas zu stark nach Margarine. Nicht nur die Cafés sind wieder

voll. Auch in den Supermarkt­regalen scheint nichts zu fehlen. Kiew lebt wie im Frieden, nur ist das Leben spärlicher geworden. Mangels Benzin gibt es weniger Autos, weniger Staus, gerade im Zentrum sind auch viel weniger Fußgänger unterwegs. Aber auf den Gehsteigen sieht man ab und zu Eltern, die ihre Kleinsten im Kinderwage­n schieben. Die Menschen in Kiew wirken nachdenkli­ch.

Und in den Gesprächen der Hauptstädt­er gibt es natürlich auch

nur ein Thema: den Krieg. Die meisten Menschen in Kiew halten einen Frieden mit Russland unmöglich – er sei nur möglich, wenn die Ukraine diesen Krieg gewinne. „Was gibt es zu den Russen überhaupt noch zu sagen“, fragt sich Luftfahrts­tudent

Wolodymyr, „nachdem du um sechs Uhr morgens von ihren einschlage­nden Raketen geweckt worden bist?“

Sporadisch gerät die Stadt noch unter Beschuss. Vor den vier Raketen, die Anfang des Monats in einem Industrieg­ebiet einschluge­n

und einen Eisenbahne­r verletzten, traf Ende April ein Sprengkopf ein

Wohnhaus gegenüber der Metro Lukjaniwsk­a. Eine junge Journalist­in kam ums Leben. Nun sitzen auf dem Gehsteig vor der U-Bahn-Station Frauen aus Winnyzja, einer Stadt südwestlic­h von Kiew, und

verkaufen Narzissen, die sie zwei Mal wöchentlic­h im Zug mitbringen. „Natürlich fürchten wir uns.

Aber was wird aus unseren Narzissen?“, fragt eine der Frauen. Noch hat Kiew Angst, aber jeder, der

Arbeit hat, ist froh darüber.

Die meisten Betonblöck­e und Befestigun­gen aus Sandsäcken sind auf Kiews Straßen beiseitege­räumt.

Aber die ganze Stadt hat die Launen des Kriegs gespürt. Und alle wissen, dass Russland ihr Land „entwaffnen“und „umerziehen“will. Ohne Kiew zu erobern, wäre beides unmöglich.

Außerdem gibt es die Kiewer Vororte Butscha, Irpin und Hostomel –

und die vielen anderen Städte, in denen Hunderte Zivilisten von Russen erschossen, vergewalti­gt, gefoltert wurden. Es habe auch „normale Russen“gegeben, erzählt Sergi, der als Wachmann in Kiew arbeitet.

Aber andere hätten auch auf Kinder geschossen. „Wenn ich jetzt Zigaretten holen will, fleht mich meine zehnjährig­e Tochter weinend an, nicht wegzugehen.“

Am Vormittag herrscht Stille im Café Kofenada. Die Frau hinter der

Theke legt lächelnd ihr Buch zur Seite: „Anna Karenina“, wohl das

bedeutends­te Werk des Schriftste­llers Lew Tolstoi. Und nun soll die Kiewer Metrostati­on Lew Tolstoi umbenannt werden, weil er Russe war. „Aber literarisc­he Klassiker haben nichts mit dem Krieg zu tun“, sagt die rothaarige Kellnerin, während sie die Cappuccino­maschine in Gang bringt. Sie liebe die ukrainisch­e Sprache, sei aber mit Russisch aufgewachs­en. „Meine Mutter lebt in Russland, soll ich die eigene Mutter hassen, weil nun Krieg ist?“

Sie erzählt von den angstvolle­n Nächten im März, als ganz Darniza

wegen der drohenden Bombardeme­nts dunkel war, nur zwei, drei Lichter brannten. Trotzdem hofft sie, dass nach dem Krieg alles besser

wird. „Der Krieg hat uns gezeigt, wie schön das Leben, wie schön jeder Atemzug ist. Dass es nicht um neue Autos oder Hypotheken geht, sondern um das Verhältnis zu anderen Menschen.“Wie lange Kiew aber noch auf den wirklichen Frieden

warten muss, das weiß sie auch nicht.

„Der Krieg hat uns gezeigt, wie schön das Leben, wie schön jeder Atemzug ist.“

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BILD: SN/IMAGO/ZUMA WIRE Fast wie zu Friedensze­iten: Schwimmen und Sonnenbade­n stand am Wochenende auf dem Programm vieler Menschen in Kiew.

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