Ein Sommer im Krieg
Kiew müht sich, in einen friedlichen Alltag zurückzufinden. Aber noch bremsen der Schock von Butscha und die Angst vor einer Rückkehr der Bombenangriffe die Lebensfreude in der Hauptstadt.
KIEW. Wie üblich ertönt am frühen
Abend der Luftalarm. Aber in Darniza, einem Stadtteil von Kiew, klingen die Sirenen leise. Die Pensionisten, die mit ihren Hunden Gassi gehen, scheinen sich von dem Alarm nicht aus der Ruhe bringen zu wollen. Und das obwohl erst Anfang Juni russische Raketen in eine Fabrik einschlugen, nur vier Kilometer Luftlinie von Darniza entfernt.
Kiew war einer der ersten Schauplätze dieses Kriegs. Die Russen hatten die ukrainische Hauptstadt fast eingekreist, mehrere Vororte erobert. Aber danach setzten ihnen die ukrainische Artillerie und ukrainischen Stoßtrupps heftig zu. Ende März ließen die russischen Streitkräfte von der Stadt ab. Aber Kiew hat noch immer Mühe, in einen friedlichen Alltag zurückzufinden. Kiew bleibt Kriegshauptstadt.
Der Wohnbezirk Darniza liegt am Ostufer des Flusses Dnjepr und ist ähnlich hässlich wie Tausende andere Schlafstädte, die damals in der
Sowjetunion entstanden sind. Eine endlose Schachtelung von Plattenbaufassaden, manche wuchtige Türme, andere lang wie riesige Ozeandampfer. Es gibt wenige Bäume, die bei der Sommerhitze Schatten spenden könnten.
Auch Witali bringt der Luftalarm nicht aus der Ruhe. Der Arzt schaut auf den Telegramkanal der Stadtverwaltung. Darin steht, wann sich die Menschen in Sicherheit bringen sollten. Es erinnert ihn daran, dass seine Frau und die Kinder nun in Sicherheit sind. Sie leben jetzt mit Schwiegermutter, Schwägerin, Cousine und drei weiteren Kindern bei Gastfamilien in Mainz. „Meine Älteste geht in den Kindergarten, ein afghanischer Bub hat sich in sie
verliebt, er und die anderen Kinder fangen schon an, ukrainisch zu reden“, sagt Witali und lacht. Tatsächlich leidet er, die Jüngste fängt gerade an zu gehen – er ist nicht dabei.
Vor dem Krieg war Kiew eine Stadt voller Leben. Die öffentlichen Plätze und Parks waren belebt, dort
promenierten, demonstrierten und musizierten die Kiewer. Oder sie tranken Kaffee. Auch in Darniza sind die Leute passionierte Kaffeetrinker, täglich öffnen im Erdgeschoß der Plattenbauten die Cafés, die zu Beginn des Kriegs schließen mussten.
Witali trinkt seinen Cappuccino im zweistöckigen Café Lemberg Croissants. Dort wird schon am
Morgen ukrainische Popmusik gespielt, die Croissants aber schmecken
etwas zu stark nach Margarine. Nicht nur die Cafés sind wieder
voll. Auch in den Supermarktregalen scheint nichts zu fehlen. Kiew lebt wie im Frieden, nur ist das Leben spärlicher geworden. Mangels Benzin gibt es weniger Autos, weniger Staus, gerade im Zentrum sind auch viel weniger Fußgänger unterwegs. Aber auf den Gehsteigen sieht man ab und zu Eltern, die ihre Kleinsten im Kinderwagen schieben. Die Menschen in Kiew wirken nachdenklich.
Und in den Gesprächen der Hauptstädter gibt es natürlich auch
nur ein Thema: den Krieg. Die meisten Menschen in Kiew halten einen Frieden mit Russland unmöglich – er sei nur möglich, wenn die Ukraine diesen Krieg gewinne. „Was gibt es zu den Russen überhaupt noch zu sagen“, fragt sich Luftfahrtstudent
Wolodymyr, „nachdem du um sechs Uhr morgens von ihren einschlagenden Raketen geweckt worden bist?“
Sporadisch gerät die Stadt noch unter Beschuss. Vor den vier Raketen, die Anfang des Monats in einem Industriegebiet einschlugen
und einen Eisenbahner verletzten, traf Ende April ein Sprengkopf ein
Wohnhaus gegenüber der Metro Lukjaniwska. Eine junge Journalistin kam ums Leben. Nun sitzen auf dem Gehsteig vor der U-Bahn-Station Frauen aus Winnyzja, einer Stadt südwestlich von Kiew, und
verkaufen Narzissen, die sie zwei Mal wöchentlich im Zug mitbringen. „Natürlich fürchten wir uns.
Aber was wird aus unseren Narzissen?“, fragt eine der Frauen. Noch hat Kiew Angst, aber jeder, der
Arbeit hat, ist froh darüber.
Die meisten Betonblöcke und Befestigungen aus Sandsäcken sind auf Kiews Straßen beiseitegeräumt.
Aber die ganze Stadt hat die Launen des Kriegs gespürt. Und alle wissen, dass Russland ihr Land „entwaffnen“und „umerziehen“will. Ohne Kiew zu erobern, wäre beides unmöglich.
Außerdem gibt es die Kiewer Vororte Butscha, Irpin und Hostomel –
und die vielen anderen Städte, in denen Hunderte Zivilisten von Russen erschossen, vergewaltigt, gefoltert wurden. Es habe auch „normale Russen“gegeben, erzählt Sergi, der als Wachmann in Kiew arbeitet.
Aber andere hätten auch auf Kinder geschossen. „Wenn ich jetzt Zigaretten holen will, fleht mich meine zehnjährige Tochter weinend an, nicht wegzugehen.“
Am Vormittag herrscht Stille im Café Kofenada. Die Frau hinter der
Theke legt lächelnd ihr Buch zur Seite: „Anna Karenina“, wohl das
bedeutendste Werk des Schriftstellers Lew Tolstoi. Und nun soll die Kiewer Metrostation Lew Tolstoi umbenannt werden, weil er Russe war. „Aber literarische Klassiker haben nichts mit dem Krieg zu tun“, sagt die rothaarige Kellnerin, während sie die Cappuccinomaschine in Gang bringt. Sie liebe die ukrainische Sprache, sei aber mit Russisch aufgewachsen. „Meine Mutter lebt in Russland, soll ich die eigene Mutter hassen, weil nun Krieg ist?“
Sie erzählt von den angstvollen Nächten im März, als ganz Darniza
wegen der drohenden Bombardements dunkel war, nur zwei, drei Lichter brannten. Trotzdem hofft sie, dass nach dem Krieg alles besser
wird. „Der Krieg hat uns gezeigt, wie schön das Leben, wie schön jeder Atemzug ist. Dass es nicht um neue Autos oder Hypotheken geht, sondern um das Verhältnis zu anderen Menschen.“Wie lange Kiew aber noch auf den wirklichen Frieden
warten muss, das weiß sie auch nicht.
„Der Krieg hat uns gezeigt, wie schön das Leben, wie schön jeder Atemzug ist.“