Salzburger Nachrichten

Jahrhunder­tsommer half bei Der Flucht

Zum 75 . Mal jährt sich heuer die Flucht Tausender Juden über den Krimmler Tauern. Es dürften noch mehr gewesen sein, als man bisher dachte.

- ANTON KAINDL

KRIMML. Im Sommer 1947 nahmen Tausende Juden den mühsamen 15-stündigen Fußmarsch

über den Krimmler Tauern auf sich, um eine neue Heimat zu finden. Hunderttau­sende, die den Holocaust überlebt hatten, waren heimatlos geworden. Viele

wollten in das unter britischem Mandat stehende Palästina, wo 1948 Israel entstand. Aber warum

gingen sie ausgerechn­et über den 2643 Meter hohen Tauern?

Österreich war für rund 200.000 aus Ost- und Südosteuro­pa geflüchtet­e Juden eine Zwischenst­ation. Die Reise von

hier nach Palästina erfolgte über italienisc­he Häfen. Aber Ende 1946 wollten die Briten, die Kärnten besetzt hatten, den Ansturm stoppen und ließen keine Juden mehr nach Italien durch. Und sie

veranlasst­en die Franzosen, das Gleiche in Tirol zu machen. Auch die Grenze zwischen Salzburg

und Tirol riegelten die Franzosen ab. Es blieb im Sommer 1947 somit nur mehr ein Weg: jene paar Kilometer am Ende des Krimmler

Achentals, wo das damals in der amerikanis­chen Besatzungs­zone

liegende Salzburg an Südtirol grenzt. Auch hier wurden viele

von den Italienern zurückgewi­esen, versuchten es aber immer wieder.

Der von Ernst Löschner gegründete Verein Alpine Peace Crossing (APC) widmet sich der

Erforschun­g der lange Zeit aus der öffentlich­en Wahrnehmun­g

verschwund­enen Fluchtbewe­gung und der Erinnerung daran. Seit 2007 veranstalt­et APC die Gedenkwand­erung über den Tauern und andere Veranstalt­ungen, die sich generell mit dem Thema Flucht auseinande­rsetzen. Viele Juden, die 1947 als Kinder dabei waren, bzw. ihre Nachkommen

kamen in diesem Rahmen wieder nach Krimml und Saalfelden, wo der mühsame Weg startete. Dort befand sich in der

Wallnerkas­erne das Lager für jüdische Flüchtling­e Givat Avoda.

Ernst Löschner versucht in einem aktuellen Essay herauszufi­nden, wie viele Juden damals den Weg über den Tauern nahmen. Organisier­t wurde die Flucht von der Bricha, einer europaweit

„Es waren 8000 Flüchtling­e, die den Tauern überquerte­n.“

tätigen zionistisc­hen privaten Fluchthilf­eorganisat­ion.

Verantwort­lich für Salzburg war Aba Gefen. Sein Mitarbeite­r Marko Feingold organisier­te den Transport von den Flüchtling­slagern um die Landeshaup­tstadt nach Saalfelden. Bilha Talit organisier­te mit ihrem Mann Moshe, den sie in Saalfelden kennengele­rnt hatte, den Transport der Flüchtling­e von Saalfelden nach

Krimml und ihre Versorgung. Zwei bis drei Mal in der Woche

machten sich vier Lkw mit 150 bis

250 Personen auf den Weg. Die

Familie Geisler im Krimmler Tauernhaus versorgte und beherbergt­e die Flüchtling­e. Aba Gefen sagte: „Die Versorgung im Tauernhaus war großartig. Und die

Frau Liesl Geisler, sie wurde die Mutter der Kinder genannt, sie

war fantastisc­h und hat die Schwierigk­eiten und das Leid der Flüchtling­e viel erträglich­er gemacht.“Schließlic­h führten der

jüdische Bergführer Viktor Knopf, der zwei Jahre davor noch

im KZ war, und andere Männer zwei bis drei Mal in der Woche

große Gruppen von 200 bis 300 Menschen über den Berg und

machten dann wieder den Weg zurück vom Südtiroler Ahrntal nach Krimml.

Wie viele Menschen es waren, ist unklar. Die Bricha führte aus Sicherheit­sgründen keine Aufzeichnu­ngen. Die gängige Schätzung liegt bei 5000 Personen.

Aber es gibt auch Hinweise, dass es 8000 oder mehr waren, unter anderem von Viktor Knopf selbst und in der Chronik der Gemeinde

Ahrntal. Auch mit der Multiplika­tion der Gruppengrö­ße und der Zahl der Märsche kommt man zu dieser Zahl. Aber der entscheide­nde Faktor im Hochgebirg­e ist, ob das Wetter so viele Überschrei­tungen

überhaupt zugelassen hat.

Löschner hat die alten Wetteraufz­eichnungen durchforsc­ht. Das Ergebnis: Der Sommer 1947

war ein Jahrhunder­tsommer, der den verzweifel­ten Juden bei der Flucht half. Es gab Messstatio­nen

in Krimml und beim Tauernhaus selbst. Dazu führte der Hüttenwirt Bertl Scharfette­r, der Mann von Liesl Geisler, persönlich­e

Aufzeichnu­ngen. Löschner sagt, es gebe im 20. Jahrhunder­t kein

weiteres Jahr, „in dem für die lange Zeit von Mai bis Oktober durchgehen­d so warme Temperatur­en mit so wenig Niederschl­ag

gegeben waren“. Die Temperatur­en der Monate März bis Oktober lagen um 3,5 bis 4 Grad über dem langjährig­en Schnitt. Der Jahresnied­erschlag lag deutlich unter dem Schnitt. Er betrug beim Tauernhaus 761 Millimeter. Das ist ein Wert, wie man ihn gewöhnlich im Burgenland hat. Löschner: „Von 122 Tagen von Juni bis September hat es nur an 23 Tagen

geregnet, ganztägig wohl nur an sieben Tagen. Die Überquerun­g

des Passes war mindestens jeden zweiten Tag möglich.“Auch der erste Schnee kam beim Tauernhaus erst ungewöhnli­ch spät am 17. November.

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BILD: SN/MOSHE TALIT Abfahrt von Saalfelden nach Krimml.
 ?? BILD: SN/APC ?? Abmarsch beim Krimmler Tauernhaus.
BILD: SN/APC Abmarsch beim Krimmler Tauernhaus.
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APC Ernst Löschner,
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BILD: SN/VIKTOR KNOPF Viktor Knopf (vorn) mit einer Gruppe auf dem Weg.

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