Salzburger Nachrichten

Die Freiheit, sich zu ver- und zu enthüllen

Darf die Stadt Grenoble das Tragen von Ganzkörper­bekleidung in Schwimmbäd­ern erlauben? Die Frage spaltet Frankreich. Nun entscheide­t das oberste Verwaltung­sgericht.

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PARIS. Es ist nur ein Stück Stoff,

wenn auch ein verhältnis­mäßig großes, und die Zahl der Frauen, die es tragen, bleibt äußerst überschaub­ar. Dennoch diskutiert Frankreich heftig darüber, ob es Musliminne­n erlaubt sein soll, in öffentlich­en Schwimmbäd­ern einen Burkini zu

tragen – also eine Badebeklei­dung, die den ganzen Körper bedeckt. Am

Dienstag ging der Streit in eine neue Runde, weil sich nun der Staatsrat, das oberste französisc­he Verwaltung­sgericht, mit dem Fall auseinande­rsetzt. Eine Entscheidu­ng steht noch aus.

Ausgelöst wurde die Debatte vom Wunsch des Bürgermeis­ters von Grenoble, Éric Piolle, den Burkini in den Schwimmans­talten seiner Stadt ebenso zuzulassen wie das Baden mit blanker Brust für Frauen. „Oben ohne“schwimmen zu gehen ist in Frankreich äußerst ungewöhnli­ch, wurde aber in diesem Fall nicht weiter kommentier­t, anders als die Erlaubnis des Ganzkörper­badeanzugs. Piolle begründete seinen Vorstoß mit der „Freiheit, sich zu bekleiden oder zu entkleiden, im

Respekt der Hygiene und der Sicherheit“.

Ob sich die Menschen beim Baden aus religiösen Gründen oder zum Schutz vor der Sonne bedeckten, „das geht uns nichts an“, sagte der 49-Jährige, der 2014 zum ersten

grünen Bürgermeis­ter einer größeren französisc­hen Stadt gewählt

wurde. Der Zugang zu öffentlich­en Dienstleis­tungen, so lautete sein Standpunkt, müsse für alle gewährleis­tet sein.

In Grenoble hatte sich im Vorfeld ein Zusammensc­hluss von betroffene­n Müttern gegründet, die ihre Kinder ins Bad begleiten und dabei einen Burkini tragen wollten. Sie

waren auf offene Ohren bei Piolle gestoßen. Nach einer hitzigen Debatte im Stadtrat Mitte Mai stimmte dieser schließlic­h mit einer knappen Mehrheit für die Erlaubnis, sich im Schwimmbad zu ver- oder zu enthüllen.

Zu diesem Zeitpunkt war das Thema bereits so stark politisch aufgeladen und zu einem landesweit diskutiert­en Problem geworden, dass eine Welle empörter Reaktionen folgte. Piolle wurde vorgeworfe­n, die Islamisier­ung der Gesellscha­ft voranzutre­iben und Frauenrech­te mit Füßen zu treten – schließlic­h würden Musliminne­n oft zur Verhüllung gezwungen. Das

grüne Stadtoberh­aupt mache sich zum Erfüllungs­gehilfen „einer totalitäre­n und radikalen Ideologie“, hieß es in einer Petition, die gestartet wurde.

Der konservati­ve Präsident der zuständige­n Region AuvergneRh­ône-Alpes, Laurent Wauquiez,

kündigte an, sämtliche Subvention­en für die Stadt Grenoble einzustell­en, um „die Unterwerfu­ng unter den Islamismus mit keinem Cent zu finanziere­n“. Innenminis­ter Gérald Darmanin wies den zuständige­n Präfekten dazu an, vor

Birgit Holzer berichtet für die SN aus Frankreich

dem Verwaltung­sgericht eine Aussetzung der neuen Regelung zu erwirken. Sie wurde gekippt. Daraufhin rief die Stadtverwa­ltung von Grenoble den Staatsrat an, der in letzter Instanz entscheide­n sollte.

Zwar sieht in Frankreich ein Laizismus-Gesetz aus dem Jahr 1905 die strikte Trennung von Staat und

Religion vor. Doch es wird verschiede­n ausgelegt: Die einen sehen darin das Verbot, religiöse Symbole in der Öffentlich­keit zu zeigen – die anderen die Freiheit, dies zu tun,

ohne dass sich der Staat einzumisch­en habe. Während das Tragen

von Kippa und Kreuz dabei kaum infrage gestellt wird, kommt es regelmäßig zu Debatten um die

Verschleie­rung muslimisch­er Frauen.

Bereits 1994 trat in Frankreich ein Gesetz in Kraft, das in Schulen nur noch diskrete religiöse Symbole erlaubte. Zehn Jahre später folgte das Kopftuchve­rbot in Schulen. Seit 2019 ist die Vollversch­leierung in der Öffentlich­keit mit einer Burka oder einem Nikab nicht mehr erlaubt.

Streit um den Burkini gab es vor allem im Jahr 2016, als mehrere Städte an der Côte d’Azur

Verbote erließen, welche der Staatsrat in der Folge wieder kassierte. Angesichts der nun wieder aufflammen­den Debatte schüttelt man in der bretonisch­en Stadt Rennes den Kopf:

Dort wurde bereits 2018 die Badeordnun­g in den städtische­n

Anstalten so verfasst, dass sie nur das Tragen von spezieller und sauberer Schwimmkle­idung vorsieht – egal, wie viel vom Körper sie verdeckt. Damit ist der Burkini erlaubt, was dort nie für

Ärger gesorgt hat: Kaum jemand trägt ihn.

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