Ein Sparer sieht rot
China nutzt seine Corona-App nicht nur zur Nachverfolgung von Infektionen, sondern auch zum Ausspionieren seiner Bürgerinnen und Bürger.
Wang Jin hatte Angst. Angst um sein erspartes Geld. Umgerechnet mehr als 60.000 Euro hatte
er der Yuzhou-Xinmingsheng-Bank in Zhengzhou anvertraut, die gesamten Ersparnisse der Familie. Als erste Gerüchte über eine Schieflage der Bank auftauchten, wollte der 35-Jährige sein Geld wieder zurückhaben. Er war nicht
der Einzige mit diesem Wunsch, kein Wunder also, dass die Bank alle Auszahlungen vorläufig einstellte. Aus technischen Gründen, wie es offiziell hieß.
Drei weitere Regionalbanken in der Provinz Henan stoppten ebenfalls die Auszahlungen. Zu hohe Zinsversprechen, riskante Finanzierungen und ein vermutlich betrügerischer Bankmanager – eine brisante Mischung, die
wohl überall auf der Welt einen Ansturm der Bankkunden auslösen würde. Immerhin 800 Sparer schafften es vor wenigen Wochen bis
vor die Tore der Bank in Zhengzhou, doch die Polizei schickte alle wieder nach Hause.
Wang Jin versuchte es diese Woche noch einmal und fuhr mit dem Zug von seiner Heimatstadt Zhangjiakou nach Zhengzhou, um die
Familienersparnisse zu retten. Am Bahnhof Zhengzhou war für ihn allerdings Endstation – seine Corona-App auf dem Handy sprang auf Rot. Die weißen Garden der Seuchenkontrolle führten ihn ab, die Polizisten zeigten etwas
Verständnis für sein Vorhaben. Aber leider, leider – mit rotem Coronacode kann man sich in China nicht mehr frei bewegen, kein Gebäude
betreten, kein Verkehrsmittel benutzen. Offen stehen einem dann nur die gefürchteten Quarantänezentren.
Anderen Sparern erging es ähnlich, kaum näherten sie sich ihrer Bank, sprang die Seuchen-App auf Rot. Ein Sparer hatte bloß eine symbolische Summe von wenigen Cents auf dem Konto, trotzdem wurde er coronarot. „Sie haben uns elektronische Handschellen angelegt, damit wir fernbleiben“, empörte sich ein Sparer gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Nicht nur ein paar Hundert Kontoinhaber sahen rot, sondern auch 360 Millionen Nutzerinnen und Nutzer auf Weibo, dem chinesischen Twitter-Klon. Die Corona-App dürfe nur zur Eindämmung der Pandemie verwendet
werden, nicht zum Ausspionieren der Bürger, forderten empörte Nutzer.
Für die Behörden von Zhengzhou könnte es eng werden, denn solch ein Missbrauch der Corona-App ist in China tatsächlich verboten. Möglicherweise werden lokale Funktionäre
über die sprichwörtliche Klinge springen müssen. Kritiker der Überwachungstechnologie fühlen sich nun bestätigt. Die Geister, die man
gerufen habe, werde man nun nicht mehr los – Überwachungstechnik ist da, um verwendet zu
werden. George Orwell und Franz Kafka würden sich wohl im Grab umdrehen, könnten sie das sehen, konnte man auf Weibo lesen.
Doch die geprellten Bankkunden haben jetzt einmal nur ihr Geld im Sinn. Auch Wang Jin
kommt noch immer nicht an sein Erspartes heran. Aber immerhin blieb ihm die Zwangseinweisung in ein Quarantänelager erspart.
Die Polizei von Zhengzhou setzte ihn einfach in den nächsten Zug Richtung Heimat. Kurz vor der Ankunft dort sprang Wangs Corona-App plötzlich wieder auf Grün. Wie von Geisterhand.