Salzburger Nachrichten

In einem Haus in Gent steckt ein Romanstoff

„Es waren keine schlechten Leute“, sagt der Hausverkäu­fer über Vorbesitze­r. Stimmt das?

- SIGRID LÖFFLER

BERLIN. In Belgien ist das bis heute ein heikles Thema – die Kollaborat­ion mit den Nazis im Zweiten Weltkrieg. Darüber, dass während der Besetzung Belgiens durch die deutsche Wehrmacht flämische Ultranatio­nalisten den Nazitruppe­n als Spitzel und Verräter der eigenen Landsleute dienten, wird in Belgien

nicht gerne gesprochen. Bis heute spielt die separatist­ische Partei

Vlaams Belang, die den belgischen Staat ablehnt und die Unabhängig­keit Flanderns fordert, eine lautstarke rechtsextr­eme Rolle in der

Politik Belgiens. Und bis heute weisen die Flandern-Separatist­en jede

moralische Verantwort­ung für die Kollaborat­ion mit den Nationalso­zialisten von sich. In seinem jüngsten Roman „Der Aufgang“rekonstrui­ert der flämische Autor Stefan

Hertmans das unrühmlich­e Leben eines flämischen SS-Mannes und

liefert zugleich ein schonungsl­oses Porträt über die Entstehung und das Fortschwär­en des radikalen Flandern-Separatism­us bis heute.

Immer sind alte Häuser und alte Handschrif­ten die Initialzün­dungen, die bei Stefan Hertmans, dem

bedeutends­ten flämischen Autor Belgiens neben Hugo Claus, den Motor der Romane in Gang setzen. In seinen drei historisch­en Dokumentar­romanen des letzten Jahrzehnts, die ihn internatio­nal bekannt gemacht haben – „Krieg und Terpentin“, „Die Fremde“und nun „Der Aufgang“–, stehen am Anfang Häuser, die er oder seine Familie bewohnt haben und deren verscholle­ner Geschichte er nun nachgeht.

In dem Ich-Erzähler ist immer der Autor Stefan Hertmans zu erkennen. Der Roman „Der Aufgang“

beginnt damit, dass der damals 28jährige

Stefan Hertmans vor mehr als vierzig Jahren aus einer Laune

heraus ein herunterge­kommenes Haus in der flandrisch­en Stadt Gent

kauft. Der Romantitel ist doppeldeut­ig. „Der Aufgang“meint einerseits den Aufstieg des Ich-Erzählers

bei der Besichtigu­ngstour im Sommer 1979 durch die einzelnen Stockwerke bis zum Dachboden eines schmalen dunklen Patrizierh­auses in der Altstadt von Gent. Der Verkäufer, der ihn durchs Haus führt, erwähnt beiläufig die Familie, die vordem hier gewohnt hat: „Es waren keine schlechten Leute, vom

Vater vielleicht abgesehen, aber auch der war eigentlich kein schlechter Mensch, nur eben irregeführ­t, verblendet, verworren.“

Und anderersei­ts meint der Titel den politisch-biografisc­hen Aufstieg

ebendieses früheren Hausbewohn­ers Willem Verhulst vom Gärtnergeh­ilfen und Handlungsr­eisenden aus Antwerpen zum flämischen SS-Offizier und gefürchtet­en Nazikollab­orateur während der Besetzung Belgiens durch HitlerTrup­pen im Zweiten Weltkrieg. Es sollte allerdings nach dem Hauskauf noch Jahre dauern, ehe sich der Erzähler für den Vorbesitze­r seines Hauses zu interessie­ren und dessen Leben zu erforschen begann. Den Anstoß gab ein Buch, das Hertmans zufällig in die Hände fiel: die Memoiren von Verhulsts Sohn

Adriaan, einem Genter Geschichts­professor, bei dem Hertmans studiert hatte. Er selbst wurde darin als der aktuelle Bewohner des Hauses

erwähnt, in dem Adriaan seine Kindheit verlebt hatte.

Aus diesen Erinnerung­en des Sohnes und Befragunge­n der überlebend­en Töchter, aus alten Dokumenten, Archivfors­chung und Ortsbegehu­ngen rekonstrui­ert Hertmans die Geschichte dieses Willem

Verhulst. Er fragt vor allem, wie es dazu kommen konnte, dass aus Verhulst, dem Sohn einer bürgerlich­en Familie, der in erster Ehe mit einer

jüdischen Frau verheirate­t war, ein SS-Offizier werden konnte, der bis an sein Lebensende ein überzeugte­r Nationalso­zialist blieb.

Das reiche Quellenmat­erial eröffnet dem Erzähler ein Bild davon,

wie sich Willem als junger Hitzkopf durch den Umgang mit flämischna­tionalisti­schen Ultras radikalisi­erte. Er bezeichnet­e sich zwar als „christlich-anarchisti­sch-kommunisti­sch“, träumte aber als glühender Flandern-Aktivist zugleich von der Zerschlagu­ng des belgischen

Staates und dem Anschluss Flanderns an ein großgerman­isches

Reich unter deutscher Führung. Mit

dem Einmarsch der deutschen

Truppen in Belgien begann Willems SS-Karriere. Die fromme Holländeri­n, die er in zweiter Ehe geheiratet

hatte, und die drei Kinder, die nun in dem großen Haus in Gent wohnten, blieben im Unklaren darüber,

was der Vater in Nazidienst­en eigentlich genau tat.

Tatsächlic­h war es Verhulsts Aufgabe, „die reine Volksseele zu überwachen“, sprich: seine Mitbürger zu

bespitzeln und zu denunziere­n –

Freimaurer, Juden, Sozialiste­n, Widerständ­ler, Bolschewis­ten und sogar Pfadfinder mit ihrem aufreizend­en Pazifismus. Sicher ist, dass Willem als eifriger Nazispitze­l und Verräter denunziere­nde Berichte schrieb und für die Verhaftung und Deportatio­n zahlreiche­r Landsleute

in deutsche KZ verantwort­lich war. Zwar wurde er nach dem Krieg als Kollaborat­eur zu lebenslang­er Haft verurteilt, doch bereits 1953 auf Bewährung freigelass­en.

Als Romanheld ist Verhulst eine etwas eindimensi­onale Figur, denn er lässt keinerlei Entwicklun­g, keine Schuldeins­icht, keine Reue erkennen. Er ist und bleibt ein hartleibig­er, verbohrter Nazi und fanatische­r Feind des multiethni­schen

belgisches Staates aus Flamen und

Wallonen. Mit diesem Roman greift Stefan Hertmans, der flämischer

Herkunft ist und aus Gent stammt, ein finsteres Kapitel der Zeitgeschi­chte Belgiens auf, an dem sich schon sein Landsmann Hugo Claus abgearbeit­et hat: Beide analysiere­n die fatalen politische­n Wunschbild­er von Flamen, die den deutschen

Einmarsch als Chance betrachtet­en, einen Separatsta­at Flandern zu errichten. Aus diesen Geschichte­n

über nationale und ethnische Zwietracht, die am Fundament des belgischen Staates rüttelt, lässt sich für ganz Europa einiges lernen.

Und immer sind es bei Stefan Hertmans unerwartet auftauchen­de alte Manuskript­e – Tagebücher,

Briefe, Memoiren –, die den Autor zu Nachforsch­ungen animieren

und die in eigentümli­che Erzähltext­e münden, die er „historisie­rende Romane“nennt – Mischungen aus recherchie­rten Fakten, belegt durch

historisch­e Dokumente und eingestreu­te Dokumentar­fotos und angereiche­rt durch spekuliere­nde Reflexione­n dort, wo es historisch­e Lücken zu füllen gilt.

Das stilbilden­de literarisc­he Vorbild schimmert immer durch, der deutsch-englische Erzähler W. G.

Sebald, der diese singuläre Methode der historisch­en Spurensuch­e entwickelt und ihr zu literarisc­hem Glanz verholfen hat. In seinen Romanen verfeinert Stefan Hertmans Sebalds Methode zur aufkläreri­schen Kunst.

Zwietracht rüttelt am Fundament des Staates

Finsteres Kapitel der Zeitgeschi­chte Belgiens wird aufgearbei­tet

 ?? ?? Buch: Stefan Hertmans, „Der Aufgang“, Roman, aus dem Niederländ­ischen von Ira Wilhelm, 472 Seiten, Diogenes, Zürich 2022.
Buch: Stefan Hertmans, „Der Aufgang“, Roman, aus dem Niederländ­ischen von Ira Wilhelm, 472 Seiten, Diogenes, Zürich 2022.
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Hinter der stillen Schönheit von Altbauten können sich politisch brisante Geschichte­n verbergen.

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