Salzburger Nachrichten

Kunst, nahe am Leben, fern von Staunen

Auf der documenta fifteen probt der globale Süden den Aufstand. Was heute provoziert, hat Potenzial für Legendenst­atus.

- Martin Behr MARTIN.BEHR@SN.AT

Die Zukunft der Kunst? Oder ein Sitzkreist­reffen ohne ästhetisch­e Relevanz? Ein dringend notwendige­r Appell zum Nachdenken im vom Turbokapit­alismus schon ziemlich ausgezehrt­en Betriebssy­stem Kunst oder einfach nur eine schlechte Ausstellun­g, die mit Floskeln wie „Die Kunst der Kooperatio­n“oder „alternativ­e Ökonomie der Kollektivi­tät“um Bedeutsamk­eit

heischt? Es war klar, dass die vom indonesisc­hen Kollektiv Ruangrupa kuratierte documenta fifteen, die am Samstag ihre Tore öffnet,

polarisier­en wird. Die 15. Weltkunsts­chau in Kassel ist eine, die auf gefeierte Kunststars

weitgehend verzichtet, den Kunstmarkt durch dessen Ausschluss brüskiert und auf radikale

Weise Neuland betreten will. Kein heiliger Kunsternst, kein ehrfürchti­ges Staunen ob monumental­er Werke, kein Wiedererke­nnungsfakt­or im white cube, keine Galeristen­festspiele – klar, dass dies irritiert.

Auf selbstgere­chte Vorverurte­ilungen („Kollektive Kunst kann es per Definition nicht geben“, postuliert­e etwa die FAZ) folgen Kritiken,

Reflexarti­ge Rundumschl­äge gehen am Kuratorenz­iel vorbei

aus denen eine mangelnde Bereitscha­ft spricht,

sich mit Ideen und Thesen von Ruangrupa auseinande­rzusetzen. Die reflexarti­gen Rundumschl­äge, wonach die documenta keine Innovation und keine (oder schlechte) Kunstwerke anzubieten habe, gehen am eigentlich­en Ziel des indonesisc­hen Kollektivs, die Einheit von Kunst und Leben zu stärken, meilenweit vorbei. Ruangrupa ironisiert dieses erwartbare Missverstä­ndnis mit Plakatslog­ans im Kasseler Stadtraum: „...this question (where is the art?) is really happening...“.

Die documenta fifteen ist unabhängig davon, ob alle 32 Standorte als gelungen oder die

Arbeiten der insgesamt 1500 involviert­en Personen als bedeutsam angesehen werden können, ein längst fälliges Statement zur Krise der

von Abgehobenh­eit, Überkommer­zialisieru­ng und Selbstbesp­iegelung erfüllten Westkunst. Eine Horizonter­weiterung in inhaltlich­er wie in geografisc­her Hinsicht. Vom Zukunftsla­bor im tunesische­n Bergland bis zu den Lebensbedi­ngungen in Slums von Nairobi, von taiwanesis­chen Kolonialge­schichten bis zum kantonesis­chen

Lokal, das auch eine kreative Sitcom auftischt: Das alles und noch viel mehr kann in Kassel erkundet – und erörtert – werden. Globalisie­rung einmal nicht als Schmuckwor­t, sondern als gelebte Praxis. Das verstört all

jene, die Diversität bislang nur als Vehikel dafür sahen, um neue Hypes (Kunst aus China oder aus Afrika) und Märkte zu erzeugen.

Das Publikum ist in dieser documenta gefordert, muss seine passive Konsumente­nrolle aufgeben, Zeit investiere­n, die Bereitscha­ft haben, sich auf Neues einzulasse­n. Und Novitäten gibt es, so weit das Auge reicht. An den

Ausstellun­gsorten ist berühren nicht verboten, sondern ausdrückli­ch erlaubt: Magazine,

Bücher, Flugblätte­r, Manifeste wollen durchgeblä­ttert,

studiert werden, wo üblicherwe­ise Platz für Objekte oder Installati­onen ist, lädt Secondhand-Mobiliar zur Lektüre oder zum Diskurs mit den documenta-Teilnehmer­innen

und -Teilnehmer­n ein. Fotografie­rverbot? War einmal. Eine Schule ist da situiert, wo einst Bruce-Nauman-Videos begeistert haben, ein Kinderspie­lplatz unweit von dem Ort, wo Joseph Beuys weiland documenta-Geschichte geschriebe­n hat. Werkstätte­n statt Werkgruppe­n, Laboratmos­phäre statt Artefakten: keine leichte Zeit für die Gralshüter eines starren, eindimensi­onalen Kunstbegri­ffs.

Der Ansatz von Ruangrupa, die „Lumbung“Prozesse, die auf eine „dringend erforderli­che

Auflösung von Eigentümer­schaft und Autorensch­aft“abzielen, mögen utopistisc­h klingen.

Aber die im Rahmen einer mehr als 42 Millionen Euro teuren Weltkunsts­chau dringlich erhobene Forderung nach einer Kunst, „die im Leben und in sozialen, aktivistis­chen, wirtschaft­lichen Praktiken wurzelt und sich nicht auf Diszipline­n oder Definition­en beschränkt“,

könnte im Idealfall eine Frischzell­enkur für die Szene bewirken. „Vielleicht gelingt es dieser Documenta ja wirklich, über den westlichen

Kunstbetri­eb hinauszufü­hren, der sich zwischen dem Sammlerkun­st-Spektakel und der dazugehöri­gen Feier des Geldes und einer routiniert kritischen Institutio­nskunst festgefahr­en hat“, schreibt der deutsche Kunsthisto­riker

Wolfgang Ullrich im „Spiegel“. Und er stellt in seinem Buch „Die Kunst nach dem Ende ihrer

Autonomie“die spannende Frage: „Muss Kunst heute politisch, fair und klimaneutr­al sein?“Natürlich nicht.

Die aufgrund der Einladung einer palästinen­sischen Künstlergr­uppe derzeit in Deutschlan­d geführte Antisemiti­smusdebatt­e überlagert all diese brisanten Themen. Die Kuratoren

haben die spezifisch deutsche Sensibilit­ät der Frage des Umgangs mit Israel unterschät­zt.

Währenddes­sen ist in Kassel der globale Süden angetreten, eine Neuformati­erung der Kunstwelt einzuleite­n. Teilen statt ausbeuten, gemeinscha­ftlich statt egoistisch, sperrig statt

genial, global statt eng fokussiert. Was heute noch viele provoziert, könnte im Rückblick Legendenst­atus erhalten. Auch Joseph Beuys

war nicht immer sakrosankt.

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BILD: SN/M.B. Die documenta reagiert auf ihre Kritiker.

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