Kunst, nahe am Leben, fern von Staunen
Auf der documenta fifteen probt der globale Süden den Aufstand. Was heute provoziert, hat Potenzial für Legendenstatus.
Die Zukunft der Kunst? Oder ein Sitzkreistreffen ohne ästhetische Relevanz? Ein dringend notwendiger Appell zum Nachdenken im vom Turbokapitalismus schon ziemlich ausgezehrten Betriebssystem Kunst oder einfach nur eine schlechte Ausstellung, die mit Floskeln wie „Die Kunst der Kooperation“oder „alternative Ökonomie der Kollektivität“um Bedeutsamkeit
heischt? Es war klar, dass die vom indonesischen Kollektiv Ruangrupa kuratierte documenta fifteen, die am Samstag ihre Tore öffnet,
polarisieren wird. Die 15. Weltkunstschau in Kassel ist eine, die auf gefeierte Kunststars
weitgehend verzichtet, den Kunstmarkt durch dessen Ausschluss brüskiert und auf radikale
Weise Neuland betreten will. Kein heiliger Kunsternst, kein ehrfürchtiges Staunen ob monumentaler Werke, kein Wiedererkennungsfaktor im white cube, keine Galeristenfestspiele – klar, dass dies irritiert.
Auf selbstgerechte Vorverurteilungen („Kollektive Kunst kann es per Definition nicht geben“, postulierte etwa die FAZ) folgen Kritiken,
Reflexartige Rundumschläge gehen am Kuratorenziel vorbei
aus denen eine mangelnde Bereitschaft spricht,
sich mit Ideen und Thesen von Ruangrupa auseinanderzusetzen. Die reflexartigen Rundumschläge, wonach die documenta keine Innovation und keine (oder schlechte) Kunstwerke anzubieten habe, gehen am eigentlichen Ziel des indonesischen Kollektivs, die Einheit von Kunst und Leben zu stärken, meilenweit vorbei. Ruangrupa ironisiert dieses erwartbare Missverständnis mit Plakatslogans im Kasseler Stadtraum: „...this question (where is the art?) is really happening...“.
Die documenta fifteen ist unabhängig davon, ob alle 32 Standorte als gelungen oder die
Arbeiten der insgesamt 1500 involvierten Personen als bedeutsam angesehen werden können, ein längst fälliges Statement zur Krise der
von Abgehobenheit, Überkommerzialisierung und Selbstbespiegelung erfüllten Westkunst. Eine Horizonterweiterung in inhaltlicher wie in geografischer Hinsicht. Vom Zukunftslabor im tunesischen Bergland bis zu den Lebensbedingungen in Slums von Nairobi, von taiwanesischen Kolonialgeschichten bis zum kantonesischen
Lokal, das auch eine kreative Sitcom auftischt: Das alles und noch viel mehr kann in Kassel erkundet – und erörtert – werden. Globalisierung einmal nicht als Schmuckwort, sondern als gelebte Praxis. Das verstört all
jene, die Diversität bislang nur als Vehikel dafür sahen, um neue Hypes (Kunst aus China oder aus Afrika) und Märkte zu erzeugen.
Das Publikum ist in dieser documenta gefordert, muss seine passive Konsumentenrolle aufgeben, Zeit investieren, die Bereitschaft haben, sich auf Neues einzulassen. Und Novitäten gibt es, so weit das Auge reicht. An den
Ausstellungsorten ist berühren nicht verboten, sondern ausdrücklich erlaubt: Magazine,
Bücher, Flugblätter, Manifeste wollen durchgeblättert,
studiert werden, wo üblicherweise Platz für Objekte oder Installationen ist, lädt Secondhand-Mobiliar zur Lektüre oder zum Diskurs mit den documenta-Teilnehmerinnen
und -Teilnehmern ein. Fotografierverbot? War einmal. Eine Schule ist da situiert, wo einst Bruce-Nauman-Videos begeistert haben, ein Kinderspielplatz unweit von dem Ort, wo Joseph Beuys weiland documenta-Geschichte geschrieben hat. Werkstätten statt Werkgruppen, Laboratmosphäre statt Artefakten: keine leichte Zeit für die Gralshüter eines starren, eindimensionalen Kunstbegriffs.
Der Ansatz von Ruangrupa, die „Lumbung“Prozesse, die auf eine „dringend erforderliche
Auflösung von Eigentümerschaft und Autorenschaft“abzielen, mögen utopistisch klingen.
Aber die im Rahmen einer mehr als 42 Millionen Euro teuren Weltkunstschau dringlich erhobene Forderung nach einer Kunst, „die im Leben und in sozialen, aktivistischen, wirtschaftlichen Praktiken wurzelt und sich nicht auf Disziplinen oder Definitionen beschränkt“,
könnte im Idealfall eine Frischzellenkur für die Szene bewirken. „Vielleicht gelingt es dieser Documenta ja wirklich, über den westlichen
Kunstbetrieb hinauszuführen, der sich zwischen dem Sammlerkunst-Spektakel und der dazugehörigen Feier des Geldes und einer routiniert kritischen Institutionskunst festgefahren hat“, schreibt der deutsche Kunsthistoriker
Wolfgang Ullrich im „Spiegel“. Und er stellt in seinem Buch „Die Kunst nach dem Ende ihrer
Autonomie“die spannende Frage: „Muss Kunst heute politisch, fair und klimaneutral sein?“Natürlich nicht.
Die aufgrund der Einladung einer palästinensischen Künstlergruppe derzeit in Deutschland geführte Antisemitismusdebatte überlagert all diese brisanten Themen. Die Kuratoren
haben die spezifisch deutsche Sensibilität der Frage des Umgangs mit Israel unterschätzt.
Währenddessen ist in Kassel der globale Süden angetreten, eine Neuformatierung der Kunstwelt einzuleiten. Teilen statt ausbeuten, gemeinschaftlich statt egoistisch, sperrig statt
genial, global statt eng fokussiert. Was heute noch viele provoziert, könnte im Rückblick Legendenstatus erhalten. Auch Joseph Beuys
war nicht immer sakrosankt.