Salzburger Nachrichten

Süße Sehnsucht nach der Heimat

Liudmyla Baranova (60) flüchtete vor dem Krieg in der Ukraine nach Wien. Im Generation­encafé Vollpensio­n darf die passionier­te Bäckerin nun ihr Können unter Beweis stellen.

- ANDREAS TRÖSCHER

WIEN. So wie Liudmyla Baranova ihre Napoleonto­rte beschreibt, ist alles ganz einfach. Eine Creme aus Eiern, Milch, Butter, Vanillezuc­ker

und noch ein paar Kleinigkei­ten. Die Creme wird anschließe­nd zwischen viele Lagen gestrichen. Obendrauf Mandeln. Fertig. Wo ist das Problem?

Für Liudmyla war eine Napoleonto­rte nie ein Problem. Unter Problemen versteht die 60-Jährige mittlerwei­le etwas völlig anderes. Zum Beispiel den Krieg in der Ukraine, vor dem sie geflüchtet ist. Aus Poltawa, einer Stadt mit knapp 300.000 Einwohnern, gelegen nicht mehr ganz im Zentrum des Landes, schon eher im Osten. Charkiw ist nicht weit, Saporischs­chja auch nicht. Dort haben russische Raketen gewütet. „In Poltawa sind alle sehr angespannt. Es ist noch nichts zerstört. Aber alle fragen sich: Wann ist es bei uns so weit?“

Ach ja, die Napoleonto­rte. Eine klassische ukrainisch­e Spezialitä­t,

betont Liudmyla, die seit Kurzem eine „Back-Oma“ist und somit Teil einer ganzen Brigade von Seniorinne­n,

die seit sieben Jahren das Projekt Vollpensio­n stemmen. Das Generation­enkaffeeha­us gibt es mittlerwei­le an zwei Standorten in

Wien. Begonnen hat alles in der Schleifmüh­lgasse beim Naschmarkt. Frauen, die ihr Berufslebe­n

bereits hinter sich gelassen hatten und ihre Pension aufbessern wollten (oder mussten), schupften den Betrieb; ihre Kuchen, Torten und

Kekse dienten als Lockmittel. Es funktionie­rte – die Besucher waren

begeistert. Derart, dass sich die Betreiber 2019 entschloss­en, ein zweites Café in der Johannesga­sse in der Musik-und-Kunst-Privatuniv­ersität zu eröffnen. Dann kam Corona.

Und alles drohte zu kippen. Doch dazu später.

Liudmyla flüchtete aus ihrer Heimat zu ihrer Tochter und den beiden kleinen Enkelsöhne­n nach

Wien. „Sofort als der Krieg begann, hat sie mich angefleht zu kommen. Ich habe mir einen Monat freigenomm­en,

weil ich dachte, dass der Krieg dann sicher vorbei wäre.“Also Wien. Ungewisshe­it. Fremde. Keine Arbeit. Und kein Kriegsende in Sicht. In Poltawa war Liudmyla

bei einem Süßwarenpr­oduzenten in der Qualitätsk­ontrolle tätig. Jetzt: 250 Euro Grundverso­rgung.

Im Internet stieß ihre Tochter schließlic­h auf die Vollpensio­n. Mama Liudmyla konnte dort ihre Leidenscha­ft fürs Backen ausleben

und auch noch Geld verdienen. Nur 110 Euro freilich, weil jeder weitere Cent bedeutet, dass die Grundverso­rgung gestrichen wird. Für ein

paar Stunden im Monat darf die 60-Jährige alle Sorgen vergessen

und zeigen, was sie kann. Ebenso wie Liubov Yatsenko, Valentyna Sribna, Tamara Pavlenko und Zoya Nechai

– vier weitere Seniorinne­n aus der Ukraine mit Passion fürs Backen.

Dass es die Vollpensio­n, diese an sich gekonnte Mischung aus Sozialproj­ekt und Wirtschaft­sbetrieb, immer noch gibt, verdankt sie den

kreativen Köpfen im Hintergrun­d, die in der Pandemie nicht nur ein Crowdfundi­ng starteten, sondern auch online Backsemina­re anboten.

Dabei hatte 2019 am neuen Standort alles so großartig begonnen. Innerhalb der ersten 36 Stunden meldeten sich mehr als 400 Bewerberin­nen.

Jetzt scheint – vorerst – das Gröbste überwunden. In der Küche

dampft und staubt es von kulinarisc­her Geschäftig­keit. An der Wand hängt ein Zettel mit Übersetzun­gen

vom Ukrainisch­en ins Deutsche, inklusive Lautschrif­t. Deutsch spricht Liudmyla Baranova nur ein paar Brocken. Sie will zurück in die Heimat. Unbedingt. Auch ihre vier Kolleginne­n. Sie alle wollen ihr Leben, ihren Alltag in der Ukraine zurück. Da passt Liudmylas andere Spezialitä­t dazu: die Tränentort­e.

Vollpensio­n: So bessern Frauen ihre Pension auf

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BILD: SN/ANDREAS TRÖSCHER Liudmyla Baranova (ganz links) und Kolleginne­n in der Backstube der Vollpensio­n.

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