Süße Sehnsucht nach der Heimat
Liudmyla Baranova (60) flüchtete vor dem Krieg in der Ukraine nach Wien. Im Generationencafé Vollpension darf die passionierte Bäckerin nun ihr Können unter Beweis stellen.
WIEN. So wie Liudmyla Baranova ihre Napoleontorte beschreibt, ist alles ganz einfach. Eine Creme aus Eiern, Milch, Butter, Vanillezucker
und noch ein paar Kleinigkeiten. Die Creme wird anschließend zwischen viele Lagen gestrichen. Obendrauf Mandeln. Fertig. Wo ist das Problem?
Für Liudmyla war eine Napoleontorte nie ein Problem. Unter Problemen versteht die 60-Jährige mittlerweile etwas völlig anderes. Zum Beispiel den Krieg in der Ukraine, vor dem sie geflüchtet ist. Aus Poltawa, einer Stadt mit knapp 300.000 Einwohnern, gelegen nicht mehr ganz im Zentrum des Landes, schon eher im Osten. Charkiw ist nicht weit, Saporischschja auch nicht. Dort haben russische Raketen gewütet. „In Poltawa sind alle sehr angespannt. Es ist noch nichts zerstört. Aber alle fragen sich: Wann ist es bei uns so weit?“
Ach ja, die Napoleontorte. Eine klassische ukrainische Spezialität,
betont Liudmyla, die seit Kurzem eine „Back-Oma“ist und somit Teil einer ganzen Brigade von Seniorinnen,
die seit sieben Jahren das Projekt Vollpension stemmen. Das Generationenkaffeehaus gibt es mittlerweile an zwei Standorten in
Wien. Begonnen hat alles in der Schleifmühlgasse beim Naschmarkt. Frauen, die ihr Berufsleben
bereits hinter sich gelassen hatten und ihre Pension aufbessern wollten (oder mussten), schupften den Betrieb; ihre Kuchen, Torten und
Kekse dienten als Lockmittel. Es funktionierte – die Besucher waren
begeistert. Derart, dass sich die Betreiber 2019 entschlossen, ein zweites Café in der Johannesgasse in der Musik-und-Kunst-Privatuniversität zu eröffnen. Dann kam Corona.
Und alles drohte zu kippen. Doch dazu später.
Liudmyla flüchtete aus ihrer Heimat zu ihrer Tochter und den beiden kleinen Enkelsöhnen nach
Wien. „Sofort als der Krieg begann, hat sie mich angefleht zu kommen. Ich habe mir einen Monat freigenommen,
weil ich dachte, dass der Krieg dann sicher vorbei wäre.“Also Wien. Ungewissheit. Fremde. Keine Arbeit. Und kein Kriegsende in Sicht. In Poltawa war Liudmyla
bei einem Süßwarenproduzenten in der Qualitätskontrolle tätig. Jetzt: 250 Euro Grundversorgung.
Im Internet stieß ihre Tochter schließlich auf die Vollpension. Mama Liudmyla konnte dort ihre Leidenschaft fürs Backen ausleben
und auch noch Geld verdienen. Nur 110 Euro freilich, weil jeder weitere Cent bedeutet, dass die Grundversorgung gestrichen wird. Für ein
paar Stunden im Monat darf die 60-Jährige alle Sorgen vergessen
und zeigen, was sie kann. Ebenso wie Liubov Yatsenko, Valentyna Sribna, Tamara Pavlenko und Zoya Nechai
– vier weitere Seniorinnen aus der Ukraine mit Passion fürs Backen.
Dass es die Vollpension, diese an sich gekonnte Mischung aus Sozialprojekt und Wirtschaftsbetrieb, immer noch gibt, verdankt sie den
kreativen Köpfen im Hintergrund, die in der Pandemie nicht nur ein Crowdfunding starteten, sondern auch online Backseminare anboten.
Dabei hatte 2019 am neuen Standort alles so großartig begonnen. Innerhalb der ersten 36 Stunden meldeten sich mehr als 400 Bewerberinnen.
Jetzt scheint – vorerst – das Gröbste überwunden. In der Küche
dampft und staubt es von kulinarischer Geschäftigkeit. An der Wand hängt ein Zettel mit Übersetzungen
vom Ukrainischen ins Deutsche, inklusive Lautschrift. Deutsch spricht Liudmyla Baranova nur ein paar Brocken. Sie will zurück in die Heimat. Unbedingt. Auch ihre vier Kolleginnen. Sie alle wollen ihr Leben, ihren Alltag in der Ukraine zurück. Da passt Liudmylas andere Spezialität dazu: die Tränentorte.
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