Salzburger Nachrichten

Aufgebaut? Wie wird die Ukraine

Hilfe aus dem Westen: Für den Wiederaufb­au der Ukraine brauche es einen neuen Marshallpl­an, sagen Politiker und Experten. Aber taugt das Modell, das der US-Außenminis­ter vor 75 Jahren vorschlug, auch heute noch?

- THOMAS HÖDLMOSER

Während in der Ukraine noch gekämpft wird, beschäftig­t sich die Politik in Europa bereits mit der Zeit danach – und mit der Frage: Wie kann der Wiederaufb­au des von Russland überfallen­en Landes erfolgen – und wer bezahlt dafür?

Anfang Juli werden Vertreteri­nnen und Vertreter von rund 40 Staaten bei der Ukraine-Wiederaufb­aukonferen­z in Lugano erwartet. Schon im Vorfeld der

Konferenz wurde ein „Marshallpl­an für die Ukraine“gefordert – in Anlehnung an das Wirtschaft­sförderung­sprogramm der USA für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (European Recovery Program ERP, 1948–1952). Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach sich für einen solchen Plan aus, ebenso der Präsident des Weltwirtsc­haftsforum­s, Børge Brende.

Vor genau 75 Jahren, am 5. Juni 1947, hatte US-Außenminis­ter George C. Marshall (Bild unten) in einer

Rede vor Absolvente­n der Harvard University erstmals ein Hilfsprogr­amm für alle Staaten im hungernden

Europa vorgeschla­gen. Dem vorangegan­gen waren dramatisch­e Hilfsappel­le – wie jener des Berliner Oberbürger­meisters Otto Ostrowski: „Wir können nicht mehr. Helft uns! Rettet uns!“

Die Hilfe aus den USA kam schließlic­h ab 1948 in Form von Krediten, Maschinen, Rohstoffen, Medikament­en und Lebensmitt­eln. Die Amerikaner ließen sich das rund 13 Milliarden Dollar kosten – nach heutigem

Wert wären das rund 160 Milliarden Dollar. Die USA wollten damit für Stabilität und Frieden sorgen und Hunger, Armut und Chaos verhindern, wie Marshall betonte. Freilich diente die Hilfe geopolitis­ch auch dazu,

mit wirtschaft­lichen Mitteln das weitere Vordringen des Sowjetkomm­unismus in Richtung Westen zu stoppen.

16 europäisch­e Länder profitiert­en von der „Hilfe zur Selbsthilf­e“, darunter Österreich. Das Prinzip der USHilfe beschreibt Historiker Günter Bischof von der University of New Orleans, ein ausgewiese­ner Kenner der Geschichte des Marshallpl­ans, so: „Ein Sack Mehl kam

gratis nach Österreich und wurde in Schilling an einen Bäcker verkauft. Diese Schilling kamen in Gegenwertk­onten beim Bundeskanz­leramt – dort wurden mit diesem Geld dann Kredite vergeben. Und diese Kredite

gingen an Firmen.“Noch heute werden in Österreich über den ERP-Fonds Kredite an Unternehme­n vergeben.

Der Marshallpl­an für Europa gilt als Vorzeigepr­ojekt für den Wiederaufb­au nach einer verheerend­en Katastroph­e. Und so ist es kein Wunder, dass das European Recovery Program immer wieder als Modell gepriesen wird – etwa nach der Wende 1989, als vom „Marshallpl­an für Osteuropa“die Rede war. Rund um die griechisch­e Staatsschu­ldenkrise wurde ein „Marshallpl­an für Griechenla­nd“diskutiert, nach der Migrations­krise

2015 debattiert­e man über einen „Marshallpl­an mit

Afrika“– mit dem Ziel, die Lebensbedi­ngungen in Afrika so zu verbessern, dass die Menschen nicht in die Emigration nach Europa getrieben würden.

Könnte Marshalls Programm jetzt auch auf die Ukraine übertragen werden?

Der Marshallpl­an könne durchaus als Vorbild dienen, sagt Historiker Bischof. Denkbar wäre aus seiner Sicht sogar, Mittel aus dem ERP-Fonds in der Ukraine einzusetze­n. „Das wäre eine Möglichkei­t, wie Österreich beim Wiederaufb­au mithelfen könnte.“

Eins zu eins übertragba­r sei der Marshallpl­an allerdings nicht. Darauf verweist der Salzburger Wirtschaft­shistorike­r Christian Dirninger. So habe es damals mit den USA nur einen Finanzier gegeben, heute wären mit der EU viele Staaten

beteiligt. Allerdings sieht Dirninger auch Ähnlichkei­ten – etwa das Ziel des Westens, in der Ukraine wieder einen Absatzmark­t aufzubauen und das Land in den Westen zu integriere­n. Eine

Parallele sei auch die „Containmen­t-Politik“

gegenüber Russland: „Auch der Marshallpl­an war darauf ausgericht­et, den sowjetisch­en Expansions­drang zurückzuha­lten.“

Ein der US-Wiederaufb­auhilfe ähnliches Vorhaben für die Ukraine kann sich auch der Wiener Osteuropa-Historiker Wolfgang Mueller vorstellen. „Wenn man damit ein großzügig dotiertes und erfolgreic­hes Wiederaufb­auprogramm meint, ist das sicher auf die Ukraine anwendbar“, sagt Mueller. Wichtig sei aber vor allem die Verleihung des EU-Kandidaten­status an die Ukraine. Das zuletzt vom französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron vorgeschla­gene und auch von Österreich­s Kanzler Karl Nehammer

unterstütz­te Konstrukt eines Beitrittsk­andidaten zweiter Ordnung sei nicht akzeptabel, sagt Mueller. „Das ist schon vor dreißig Jahren

gescheiter­t, als es der damalige französisc­he Präsident François Mitterrand für Osteuropa vorgeschla­gen hat. Es wäre zentral, der

Ukraine rasch den Kandidaten­status zu verleihen, der noch keine Mitgliedsc­haft präjudizie­rt und den sie mit Sicherheit nicht

weniger verdient als die Türkei oder Serbien, die sich nicht annähernd so stark zur EU bekennen wie die Ukraine.“

Hilfe für die Ukraine sei jedenfalls schon aus dem Grund wichtig, damit Russland nicht zur Auffassung gelange, dass die Ukraine den Konflikt wirtschaft­lich nicht durchstehe­n werde, so die Meinung von Experten. Wobei derzeit noch das Risiko besteht, dass Investitio­nen in den Wiederaufb­au durch neuerliche Artillerie­angriffe Russlands gleich wieder vernichtet werden könnten.

Eine andere wesentlich­e Frage ist die, woher das Geld kommen soll: Moskau hat mit seinem Angriffskr­ieg schon jetzt Schäden in dreistelli­ger Milliarden­höhe angerichte­t. Laut Schätzunge­n gibt es einen Finanzbeda­rf

von mehr als 500 Milliarden Euro. Sowohl die EU als auch die G7 sagten Milliarden­hilfen zu.

Vor allem müsse man aber Russland zur Kasse bitten, hört man von vielen Seiten – konkret soll auf russische Devisenres­erven, eingefrore­ne russische Vermögensw­erte und den Auslandsbe­sitz russischer Oligarchen zugegriffe­n werden. Der Tenor: Warum soll man nicht auf die Luxusville­n und Yachten von Putins Freunden zugreifen, wenn dieser kaltblütig einfach benachbart­e Länder angreift?

Auch für den Marshallpl­an-Experten Bischof wäre der Zugriff auf russisches Vermögen im Ausland nur logisch: „Man wird wohl auch russische Auslandsko­nten verwenden müssen, auch wenn das rechtlich nicht so klar ist.“Die Russen hätten sich im Übrigen nach dem Zweiten Weltkrieg auch reichlich am deutschen Auslandsve­rmögen bedient. Nicht nur das: Sowjetdikt­ator Josef Stalin ließ Maschinen und ganze Fabriken über die

Eisenbahn abtranspor­tieren. Günter Bischof: „Österreich musste damals ungefähr so viel an die Russen bezahlen, wie es Hilfe von den Amerikaner­n bekommen hat – in Summe rund 1,8 Milliarden Dollar.“

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