Aufgebaut? Wie wird die Ukraine
Hilfe aus dem Westen: Für den Wiederaufbau der Ukraine brauche es einen neuen Marshallplan, sagen Politiker und Experten. Aber taugt das Modell, das der US-Außenminister vor 75 Jahren vorschlug, auch heute noch?
Während in der Ukraine noch gekämpft wird, beschäftigt sich die Politik in Europa bereits mit der Zeit danach – und mit der Frage: Wie kann der Wiederaufbau des von Russland überfallenen Landes erfolgen – und wer bezahlt dafür?
Anfang Juli werden Vertreterinnen und Vertreter von rund 40 Staaten bei der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Lugano erwartet. Schon im Vorfeld der
Konferenz wurde ein „Marshallplan für die Ukraine“gefordert – in Anlehnung an das Wirtschaftsförderungsprogramm der USA für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (European Recovery Program ERP, 1948–1952). Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach sich für einen solchen Plan aus, ebenso der Präsident des Weltwirtschaftsforums, Børge Brende.
Vor genau 75 Jahren, am 5. Juni 1947, hatte US-Außenminister George C. Marshall (Bild unten) in einer
Rede vor Absolventen der Harvard University erstmals ein Hilfsprogramm für alle Staaten im hungernden
Europa vorgeschlagen. Dem vorangegangen waren dramatische Hilfsappelle – wie jener des Berliner Oberbürgermeisters Otto Ostrowski: „Wir können nicht mehr. Helft uns! Rettet uns!“
Die Hilfe aus den USA kam schließlich ab 1948 in Form von Krediten, Maschinen, Rohstoffen, Medikamenten und Lebensmitteln. Die Amerikaner ließen sich das rund 13 Milliarden Dollar kosten – nach heutigem
Wert wären das rund 160 Milliarden Dollar. Die USA wollten damit für Stabilität und Frieden sorgen und Hunger, Armut und Chaos verhindern, wie Marshall betonte. Freilich diente die Hilfe geopolitisch auch dazu,
mit wirtschaftlichen Mitteln das weitere Vordringen des Sowjetkommunismus in Richtung Westen zu stoppen.
16 europäische Länder profitierten von der „Hilfe zur Selbsthilfe“, darunter Österreich. Das Prinzip der USHilfe beschreibt Historiker Günter Bischof von der University of New Orleans, ein ausgewiesener Kenner der Geschichte des Marshallplans, so: „Ein Sack Mehl kam
gratis nach Österreich und wurde in Schilling an einen Bäcker verkauft. Diese Schilling kamen in Gegenwertkonten beim Bundeskanzleramt – dort wurden mit diesem Geld dann Kredite vergeben. Und diese Kredite
gingen an Firmen.“Noch heute werden in Österreich über den ERP-Fonds Kredite an Unternehmen vergeben.
Der Marshallplan für Europa gilt als Vorzeigeprojekt für den Wiederaufbau nach einer verheerenden Katastrophe. Und so ist es kein Wunder, dass das European Recovery Program immer wieder als Modell gepriesen wird – etwa nach der Wende 1989, als vom „Marshallplan für Osteuropa“die Rede war. Rund um die griechische Staatsschuldenkrise wurde ein „Marshallplan für Griechenland“diskutiert, nach der Migrationskrise
2015 debattierte man über einen „Marshallplan mit
Afrika“– mit dem Ziel, die Lebensbedingungen in Afrika so zu verbessern, dass die Menschen nicht in die Emigration nach Europa getrieben würden.
Könnte Marshalls Programm jetzt auch auf die Ukraine übertragen werden?
Der Marshallplan könne durchaus als Vorbild dienen, sagt Historiker Bischof. Denkbar wäre aus seiner Sicht sogar, Mittel aus dem ERP-Fonds in der Ukraine einzusetzen. „Das wäre eine Möglichkeit, wie Österreich beim Wiederaufbau mithelfen könnte.“
Eins zu eins übertragbar sei der Marshallplan allerdings nicht. Darauf verweist der Salzburger Wirtschaftshistoriker Christian Dirninger. So habe es damals mit den USA nur einen Finanzier gegeben, heute wären mit der EU viele Staaten
beteiligt. Allerdings sieht Dirninger auch Ähnlichkeiten – etwa das Ziel des Westens, in der Ukraine wieder einen Absatzmarkt aufzubauen und das Land in den Westen zu integrieren. Eine
Parallele sei auch die „Containment-Politik“
gegenüber Russland: „Auch der Marshallplan war darauf ausgerichtet, den sowjetischen Expansionsdrang zurückzuhalten.“
Ein der US-Wiederaufbauhilfe ähnliches Vorhaben für die Ukraine kann sich auch der Wiener Osteuropa-Historiker Wolfgang Mueller vorstellen. „Wenn man damit ein großzügig dotiertes und erfolgreiches Wiederaufbauprogramm meint, ist das sicher auf die Ukraine anwendbar“, sagt Mueller. Wichtig sei aber vor allem die Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine. Das zuletzt vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagene und auch von Österreichs Kanzler Karl Nehammer
unterstützte Konstrukt eines Beitrittskandidaten zweiter Ordnung sei nicht akzeptabel, sagt Mueller. „Das ist schon vor dreißig Jahren
gescheitert, als es der damalige französische Präsident François Mitterrand für Osteuropa vorgeschlagen hat. Es wäre zentral, der
Ukraine rasch den Kandidatenstatus zu verleihen, der noch keine Mitgliedschaft präjudiziert und den sie mit Sicherheit nicht
weniger verdient als die Türkei oder Serbien, die sich nicht annähernd so stark zur EU bekennen wie die Ukraine.“
Hilfe für die Ukraine sei jedenfalls schon aus dem Grund wichtig, damit Russland nicht zur Auffassung gelange, dass die Ukraine den Konflikt wirtschaftlich nicht durchstehen werde, so die Meinung von Experten. Wobei derzeit noch das Risiko besteht, dass Investitionen in den Wiederaufbau durch neuerliche Artillerieangriffe Russlands gleich wieder vernichtet werden könnten.
Eine andere wesentliche Frage ist die, woher das Geld kommen soll: Moskau hat mit seinem Angriffskrieg schon jetzt Schäden in dreistelliger Milliardenhöhe angerichtet. Laut Schätzungen gibt es einen Finanzbedarf
von mehr als 500 Milliarden Euro. Sowohl die EU als auch die G7 sagten Milliardenhilfen zu.
Vor allem müsse man aber Russland zur Kasse bitten, hört man von vielen Seiten – konkret soll auf russische Devisenreserven, eingefrorene russische Vermögenswerte und den Auslandsbesitz russischer Oligarchen zugegriffen werden. Der Tenor: Warum soll man nicht auf die Luxusvillen und Yachten von Putins Freunden zugreifen, wenn dieser kaltblütig einfach benachbarte Länder angreift?
Auch für den Marshallplan-Experten Bischof wäre der Zugriff auf russisches Vermögen im Ausland nur logisch: „Man wird wohl auch russische Auslandskonten verwenden müssen, auch wenn das rechtlich nicht so klar ist.“Die Russen hätten sich im Übrigen nach dem Zweiten Weltkrieg auch reichlich am deutschen Auslandsvermögen bedient. Nicht nur das: Sowjetdiktator Josef Stalin ließ Maschinen und ganze Fabriken über die
Eisenbahn abtransportieren. Günter Bischof: „Österreich musste damals ungefähr so viel an die Russen bezahlen, wie es Hilfe von den Amerikanern bekommen hat – in Summe rund 1,8 Milliarden Dollar.“