In Putins Kopf
Psychoanalyse.
Als imperiale Macht ist Russland angsteinflößend. Gleichzeitig sieht es sich als
Opfer böser Einflüsse von außen. Zwiegespalten bleibt
auch das Verhältnis der Russen zu Europa. In einem neuen Roman heißt es: „Seit Peter dem Großen hecheln
wir hinter Europa her und bezichtigen es zugleich der
Vulgarität und Dekadenz.“
Sasha Filipenko konnte im Süden Frankreichs beobachten, wie russische Oligarchen dem süßen Leben frönten. Gleichzeitig erlebte er aber, wie diese Neureichen im
russischen Staatsfernsehen auf den verdorbenen Westen wetterten und sich als Superpatrioten in Szene setzten. Das war für den Schriftsteller der Anstoß zu seinem Roman „Die Jagd“(Diogenes-Verlag,
Zürich 2022). Erzählt wird in diesem Buch die Geschichte des Journalisten Anton Quint, der die Wahrheit über einen Oligarchen enthüllen will und deswegen das Ziel einer perfiden Kampagne der Mächtigen
wird: Er wird schikaniert und verleumdet. Das Leben wird ihm zur Hölle gemacht.
Diese Darstellung ist in den Augen des Autors ein Abbild der Zustände im Russland des Wladimir Putin. Der Präsident, den der Westen bisher bloß als autokratisch apostrophiert hat, ist mit seinem UkraineKrieg zum diktatorischen Herrscher geworden. Er hat in seinem Land ein Klima der
Angst geschaffen. Von der Medienfreiheit sei nichts übrig geblieben, sagt Filipenko in
unserem Gespräch. Die wenigen Journalisten, die noch auf Facebook oder YouTube
veröffentlichten, stünden auf verlorenem Posten. „Dafür funktioniert die staatliche Propaganda in Russland glänzend“, konstatiert der Autor. Das Regime kombiniere Propaganda mit Zensur – und Selbstzensur
komme hinzu. Die Älteren erinnerten sich an die Sowjetzeiten, als jedermann genau gewusst habe, was man sagen durfte und was nicht.
Mit dem politischen Insider Filipenko lässt sich ein Psychogramm der Putin-Herrschaft zeichnen. Die Geschichte als Imperium prägt Russland bis heute. 14 Länder zählt es an seinen Grenzen; und mit der
Ausnahme von Norwegen sind sie alle schon einmal von den Russen angegriffen oder okkupiert worden. Die Niederlage im Kalten Krieg und den Zerfall der Sowjetunion stellt die Machtelite in Moskau heute als Demütigung dar. Es ist ein Grundmuster
ihrer Propaganda, immer wieder die Ursache der Misere zu benennen, nämlich den
bösen liberalen Westen. Ein „Troll“beschreibt in Filipenkos Roman seine Tätigkeit so: „Meine Kommentare stellen klar, dass an allem die USA schuld sind.“
Auch die autoritäre Herrschaft ist prägend für Russland – mit einer absoluten Macht oben, der sich das Volk unten zu fügen hat. An dieser Konstellation hat sich
bis heute nichts geändert. Sie reicht von Iwan dem Schrecklichen über das Zarenreich und die Sowjetunion bis zu Putins Präsidentschaft. Im Roman heißt es über das Russland von heute: „Die Leute sprechen mehrheitlich in den Parolen, die sie tags zuvor im Fernsehen aufgeschnappt
haben.“Zu keinem Zeitpunkt ist es dem Land gelungen, eine echte Demokratie auszubilden, auch nicht während der 1990erJahre. Das Chaos von damals hat vielmehr einen Politiker an die Macht gebracht, der proklamieren konnte, mit „starker Hand“regieren zu wollen.
Im Roman klingt der patriotische Jubel so: „Den Präsidenten muss man lieben, weil der Präsident das Vaterland ist.“
Es sei schwierig zu sagen, wie viele Menschen hinter Putins Kurs stünden,
meint Sasha Filipenko in unserem Gespräch. Aber ganz offenkundig sei es, dass nur wenige Widerstand leisteten. Die Mehrheit bleibe passiv. Das habe damit zu tun, „dass es keine Gesellschaft gibt“. Die Leute fühlten sich nicht miteinander verbunden,
nicht füreinander verantwortlich. Das Land sei „atomisiert“. Diese Gefühlslage verstärke sich jetzt dadurch, dass zwischen Russland und Europa ein neuer „Eiserner Vorhang“
gezogen worden sei. Die EU-Staaten hätten noch nicht verstanden, wie weit der „Informationskrieg“des russischen Regimes gegen sie schon reiche.
Anselm Kiefer, der große Mythendenker in der deutschen Kunst, erklärte einmal in einem Gespräch: „In unserem Gehirn haben wir ja noch dinosaurische Elemente, uralte Zellen aus
Vorzeiten. Noch heute besteht ein Teil der Weltpolitik ja auf Dinosaurierdenken.“Kiefer machte darauf aufmerksam, als vom russischen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine noch keine Rede
war. Sieht man sich die Rhetorik Putins und seines Umfelds an, erkennen wir tatsächlich Raubsaurier auf dem Vormarsch. Ramsan
Kadyrow, Präsident Tschetscheniens von Putins Gnaden und dessen eifriger Bluthund, bezeichnet russische Oppositionelle als „Volksfeinde“und „Verräter“, denen der Prozess gemacht werden sollte.
Aber wo kommt Putins Denken her? Er galt einmal als interessierter Student der Rechtswissenschaften, der sich mit Kant, Hobbes und Locke beschäftigt habe. Zitate von Kant ließ er sogar öfter in seine Reden einfließen. Doch schaut man genau, ist dahinter Kalkül auszumachen. Der Philosoph lehrte in Königsberg, einer ostpreußischen Residenzstadt, die er zeitlebens nie verließ. 1945 fiel sie an die UdSSR und wurde in Kaliningrad umbenannt. Heute ist sie eine russische Enklave zwischen Polen
und Litauen. Michel Eltchaninoff schreibt in seinem Buch „In Putins Kopf“(Klett-Cotta,
Stuttgart 2022), dass Putin, als er die Stadt 2005 besuchte, Kant zu „entgermanisieren“
versuchte. Er erklärte ihn zu einem „gemeinsamen Landsmann von Deutschen wie Russen“. Wenn ihm damals noch gefiel, dass sich Kant vehement dagegen aussprach, „zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten durch Krieg zu lösen“, hat er es sich inzwischen anders überlegt. Der Ökonom
Politikanalyse.
Putin ist kein Philosoph, kein Historiker, kein Intellektueller. Er biegt sich Geschichte zurecht, entnimmt seinen Lektüren das, was ihm gerade bedeutsam ist, die Rechtfertigung der Expansion Russlands zu einem Weltreich. Ein Raubsaurier ist auf dem Vormarsch.
HELMUT L. MÜLLER
Andrei Illarionow, ein früherer Vertrauter Putins, bestreitet, dass er jemals liberal gewesen sei. Er ging als Verstellungskünstler vor, der täuschte, um an die Spitze der Macht zu gelangen. Seine intellektuellen Ratgeber
heute sind demnach im Vergleich zu Kant denkerische, aber gefährliche Leichtgewichte.
Iwan Iljin (1883–1954) zum Beispiel. Sein Leichnam wurde 2005 aus der Schweiz nach Moskau verbracht, wo er gemeinsam mit zwei anderen für Putin wichtigen Toten feierlich beigesetzt wurde. Während der Russischen Revolution stand er als Anhänger der
Weißen Armee auf der falschen Seite, war konservativ und Faschist (das zum Thema Entnazifizierung der Ukraine) und wurde
pompös rehabilitiert. Das ist Teil einer Geschichtsoperation, die im Rahmen des Programms „Für Versöhnung und Einheit“die Unterschiede zwischen rotem und weißem Russland verwischt. Aufarbeitung von Geschichte ist unerwünscht, weil sie laut Putin nur Unfrieden in die Gesellschaft tragen würde. Dafür ehrt er den seiner Grausamkeit wegen gefürchteten General der Weißen Armee Anton Denikin, dem Historiker die Hauptschuld an Judenpogromen während des Bürgerkriegs anlasten. Für Eltchaninoff ist Iljin zum Hauptphilosophen Putins geworden, den er gern in seinen Reden zitiert. Berüchtigt ist Iljins Schrift „Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“, worin er aufrief „zu verhaften, zu verurteilen und zu erschießen“. Er lobt die Nazis in den höchsten Tönen, gerät in Konflikt mit ihnen, um sich dann den Faschisten Franco und Salazar zuzuwenden. Lieblingslektüre für Putin, in
welcher er sich wiedererkennen will, ist die Schrift „Unsere Aufgaben“, wo „der Aufstieg der Besten nach ganz oben“eingefordert
wird, „Männer, die Russland ergeben sind, ein Gespür für seine Nation haben, seinen Staat denken, energisch, kreativ, dem Volk
nicht Rache und Niedergang bringen, sondern den Geist von Befreiung, Gerechtigkeit und Eintracht zwischen allen Klassen“. Es
geht um nichts weniger als die Wiedergeburt eines neuen Russland, das sich durchaus zum eurasischen Weltreich auswachsen darf.