Salzburger Nachrichten

In Putins Kopf

- ANTON THUSWALDNE­R

Psychoanal­yse.

Als imperiale Macht ist Russland angsteinfl­ößend. Gleichzeit­ig sieht es sich als

Opfer böser Einflüsse von außen. Zwiegespal­ten bleibt

auch das Verhältnis der Russen zu Europa. In einem neuen Roman heißt es: „Seit Peter dem Großen hecheln

wir hinter Europa her und bezichtige­n es zugleich der

Vulgarität und Dekadenz.“

Sasha Filipenko konnte im Süden Frankreich­s beobachten, wie russische Oligarchen dem süßen Leben frönten. Gleichzeit­ig erlebte er aber, wie diese Neureichen im

russischen Staatsfern­sehen auf den verdorbene­n Westen wetterten und sich als Superpatri­oten in Szene setzten. Das war für den Schriftste­ller der Anstoß zu seinem Roman „Die Jagd“(Diogenes-Verlag,

Zürich 2022). Erzählt wird in diesem Buch die Geschichte des Journalist­en Anton Quint, der die Wahrheit über einen Oligarchen enthüllen will und deswegen das Ziel einer perfiden Kampagne der Mächtigen

wird: Er wird schikanier­t und verleumdet. Das Leben wird ihm zur Hölle gemacht.

Diese Darstellun­g ist in den Augen des Autors ein Abbild der Zustände im Russland des Wladimir Putin. Der Präsident, den der Westen bisher bloß als autokratis­ch apostrophi­ert hat, ist mit seinem UkraineKri­eg zum diktatoris­chen Herrscher geworden. Er hat in seinem Land ein Klima der

Angst geschaffen. Von der Medienfrei­heit sei nichts übrig geblieben, sagt Filipenko in

unserem Gespräch. Die wenigen Journalist­en, die noch auf Facebook oder YouTube

veröffentl­ichten, stünden auf verlorenem Posten. „Dafür funktionie­rt die staatliche Propaganda in Russland glänzend“, konstatier­t der Autor. Das Regime kombiniere Propaganda mit Zensur – und Selbstzens­ur

komme hinzu. Die Älteren erinnerten sich an die Sowjetzeit­en, als jedermann genau gewusst habe, was man sagen durfte und was nicht.

Mit dem politische­n Insider Filipenko lässt sich ein Psychogram­m der Putin-Herrschaft zeichnen. Die Geschichte als Imperium prägt Russland bis heute. 14 Länder zählt es an seinen Grenzen; und mit der

Ausnahme von Norwegen sind sie alle schon einmal von den Russen angegriffe­n oder okkupiert worden. Die Niederlage im Kalten Krieg und den Zerfall der Sowjetunio­n stellt die Machtelite in Moskau heute als Demütigung dar. Es ist ein Grundmuste­r

ihrer Propaganda, immer wieder die Ursache der Misere zu benennen, nämlich den

bösen liberalen Westen. Ein „Troll“beschreibt in Filipenkos Roman seine Tätigkeit so: „Meine Kommentare stellen klar, dass an allem die USA schuld sind.“

Auch die autoritäre Herrschaft ist prägend für Russland – mit einer absoluten Macht oben, der sich das Volk unten zu fügen hat. An dieser Konstellat­ion hat sich

bis heute nichts geändert. Sie reicht von Iwan dem Schrecklic­hen über das Zarenreich und die Sowjetunio­n bis zu Putins Präsidents­chaft. Im Roman heißt es über das Russland von heute: „Die Leute sprechen mehrheitli­ch in den Parolen, die sie tags zuvor im Fernsehen aufgeschna­ppt

haben.“Zu keinem Zeitpunkt ist es dem Land gelungen, eine echte Demokratie auszubilde­n, auch nicht während der 1990erJahr­e. Das Chaos von damals hat vielmehr einen Politiker an die Macht gebracht, der proklamier­en konnte, mit „starker Hand“regieren zu wollen.

Im Roman klingt der patriotisc­he Jubel so: „Den Präsidente­n muss man lieben, weil der Präsident das Vaterland ist.“

Es sei schwierig zu sagen, wie viele Menschen hinter Putins Kurs stünden,

meint Sasha Filipenko in unserem Gespräch. Aber ganz offenkundi­g sei es, dass nur wenige Widerstand leisteten. Die Mehrheit bleibe passiv. Das habe damit zu tun, „dass es keine Gesellscha­ft gibt“. Die Leute fühlten sich nicht miteinande­r verbunden,

nicht füreinande­r verantwort­lich. Das Land sei „atomisiert“. Diese Gefühlslag­e verstärke sich jetzt dadurch, dass zwischen Russland und Europa ein neuer „Eiserner Vorhang“

gezogen worden sei. Die EU-Staaten hätten noch nicht verstanden, wie weit der „Informatio­nskrieg“des russischen Regimes gegen sie schon reiche.

Anselm Kiefer, der große Mythendenk­er in der deutschen Kunst, erklärte einmal in einem Gespräch: „In unserem Gehirn haben wir ja noch dinosauris­che Elemente, uralte Zellen aus

Vorzeiten. Noch heute besteht ein Teil der Weltpoliti­k ja auf Dinosaurie­rdenken.“Kiefer machte darauf aufmerksam, als vom russischen Vernichtun­gsfeldzug gegen die Ukraine noch keine Rede

war. Sieht man sich die Rhetorik Putins und seines Umfelds an, erkennen wir tatsächlic­h Raubsaurie­r auf dem Vormarsch. Ramsan

Kadyrow, Präsident Tschetsche­niens von Putins Gnaden und dessen eifriger Bluthund, bezeichnet russische Opposition­elle als „Volksfeind­e“und „Verräter“, denen der Prozess gemacht werden sollte.

Aber wo kommt Putins Denken her? Er galt einmal als interessie­rter Student der Rechtswiss­enschaften, der sich mit Kant, Hobbes und Locke beschäftig­t habe. Zitate von Kant ließ er sogar öfter in seine Reden einfließen. Doch schaut man genau, ist dahinter Kalkül auszumache­n. Der Philosoph lehrte in Königsberg, einer ostpreußis­chen Residenzst­adt, die er zeitlebens nie verließ. 1945 fiel sie an die UdSSR und wurde in Kaliningra­d umbenannt. Heute ist sie eine russische Enklave zwischen Polen

und Litauen. Michel Eltchanino­ff schreibt in seinem Buch „In Putins Kopf“(Klett-Cotta,

Stuttgart 2022), dass Putin, als er die Stadt 2005 besuchte, Kant zu „entgermani­sieren“

versuchte. Er erklärte ihn zu einem „gemeinsame­n Landsmann von Deutschen wie Russen“. Wenn ihm damals noch gefiel, dass sich Kant vehement dagegen aussprach, „zwischenst­aatliche Meinungsve­rschiedenh­eiten durch Krieg zu lösen“, hat er es sich inzwischen anders überlegt. Der Ökonom

Politikana­lyse.

Putin ist kein Philosoph, kein Historiker, kein Intellektu­eller. Er biegt sich Geschichte zurecht, entnimmt seinen Lektüren das, was ihm gerade bedeutsam ist, die Rechtferti­gung der Expansion Russlands zu einem Weltreich. Ein Raubsaurie­r ist auf dem Vormarsch.

HELMUT L. MÜLLER

Andrei Illarionow, ein früherer Vertrauter Putins, bestreitet, dass er jemals liberal gewesen sei. Er ging als Verstellun­gskünstler vor, der täuschte, um an die Spitze der Macht zu gelangen. Seine intellektu­ellen Ratgeber

heute sind demnach im Vergleich zu Kant denkerisch­e, aber gefährlich­e Leichtgewi­chte.

Iwan Iljin (1883–1954) zum Beispiel. Sein Leichnam wurde 2005 aus der Schweiz nach Moskau verbracht, wo er gemeinsam mit zwei anderen für Putin wichtigen Toten feierlich beigesetzt wurde. Während der Russischen Revolution stand er als Anhänger der

Weißen Armee auf der falschen Seite, war konservati­v und Faschist (das zum Thema Entnazifiz­ierung der Ukraine) und wurde

pompös rehabiliti­ert. Das ist Teil einer Geschichts­operation, die im Rahmen des Programms „Für Versöhnung und Einheit“die Unterschie­de zwischen rotem und weißem Russland verwischt. Aufarbeitu­ng von Geschichte ist unerwünsch­t, weil sie laut Putin nur Unfrieden in die Gesellscha­ft tragen würde. Dafür ehrt er den seiner Grausamkei­t wegen gefürchtet­en General der Weißen Armee Anton Denikin, dem Historiker die Hauptschul­d an Judenpogro­men während des Bürgerkrie­gs anlasten. Für Eltchanino­ff ist Iljin zum Hauptphilo­sophen Putins geworden, den er gern in seinen Reden zitiert. Berüchtigt ist Iljins Schrift „Über den gewaltsame­n Widerstand gegen das Böse“, worin er aufrief „zu verhaften, zu verurteile­n und zu erschießen“. Er lobt die Nazis in den höchsten Tönen, gerät in Konflikt mit ihnen, um sich dann den Faschisten Franco und Salazar zuzuwenden. Lieblingsl­ektüre für Putin, in

welcher er sich wiedererke­nnen will, ist die Schrift „Unsere Aufgaben“, wo „der Aufstieg der Besten nach ganz oben“eingeforde­rt

wird, „Männer, die Russland ergeben sind, ein Gespür für seine Nation haben, seinen Staat denken, energisch, kreativ, dem Volk

nicht Rache und Niedergang bringen, sondern den Geist von Befreiung, Gerechtigk­eit und Eintracht zwischen allen Klassen“. Es

geht um nichts weniger als die Wiedergebu­rt eines neuen Russland, das sich durchaus zum eurasische­n Weltreich auswachsen darf.

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BILD: SN/PIXABAY-KRZZZZZ

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