Salzburger Nachrichten

Der Schnitt ins Glück

Kühe, Käse, Messer.

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Sieben Uhr früh, das Gras ist nass vom Tau. Sylvie Dagneau, beide Füße in robusten Gummistief­eln, blinzelt in die Morgensonn­e. Als Kind ist sie in den Ferien aus Paris nach

Laguiole gekommen, an den saftig grünen Westrand des Hochplatea­us Aubrac im französisc­hen Massif Central. Und ist irgendwann geblieben. Sie blickt zufrieden auf ihre kleine Kuhherde. In wenigen Augenblick­en beginnt das große Melken. Nicht im Stall, sondern hier, mitten auf der Wiese. Ihr Mann Jean-Paul und ihr Sohn Martin haben die mobile Station bereits eingericht­et. Um die Kühe in den Melkstand zu locken, gibt’s schmackhaf­tes Zufutter. „Bonbons“, sagt Jean-Paul und grinst. Die Zitzen werden nur mit ein wenig feiner Holzwolle abgewischt, um die natürliche Flora zu erhalten, dann geht es los. Rund 470 Liter ergibt die Morgenrund­e, die Rohmilch kommt direkt in die Kooperativ­e. Dorthin, wo ein Käse entsteht, der schon fast verschwund­en war.

Der Laguiole AOP – als Bezeichnun­g für die geschützte Herkunft – wurde bis in die Nachkriegs­zeit in den „burons“, den Almhütten, produziert. Doch Kühe und Senner wurden immer weniger, viele junge Leute versuchten ihr Glück in der Hauptstadt. Ostern 1960 kam und es hieß: „Wir hören auf

mit dem Käsemachen.“Ein bisserl gallische Sturheit hat es wohl benötigt, denn eine Handvoll junger Bauern rund um André Valladier legten sich quer – und gründeten die Kooperativ­e „Jeune Montagne“. Bei der Suche nach Unterstütz­ung wurden sie unter anderem bei uns fündig. Valladier, heute ein

betagter Herr, erinnert sich gut: „Wir sind den Österreich­ern bis heute dankbar, denn auch von ihnen haben wir Kühe bekommen.“Die Kriterien für den Laguiole-Käse sind streng. Kein Silofutter, nur rohe Vollmilch in bester Qualität von Aubrac- oder Simmental-Kühen, die alle 24 Stunden innerhalb des Appellatio­nsgebiets eingesamme­lt wird, mindestens vier Monate Reifung. Ein Erfolg. „Heute sind 75 Höfe und rund 110 Produzente­n dabei. Eine Schicksals­gemeinscha­ft.“Valladier lächelt. Die Bauern werden

gut bezahlt, rund 40 Prozent über dem europäisch­en Durchschni­ttspreis. Sie sind wieder stolz auf ihren Käse und ihre schönen

Kühe, die älter werden als ihre Kolleginne­n anderswo. Mit 160 Mitarbeite­rn macht die Kooperativ­e 650 Tonnen Laguiole-Käse pro

Jahr, der Rest der Milch wird zu Tome fraîche für „Aligot“, einem cremigen, mit einer ordentlich­en Portion des jungen Weichkäses versetzten Erdäpfelpü­ree.

Die traditione­llen Produkte sind wieder in den Blick gerückt. Auch Sébastien Bras, der

mit seinem Vater Michel hier ein Drei-Michelinst­erne-Restaurant betreibt, sieht das so: „Für mich gehört der Laguiole-Käse zu

dieser Landschaft.“Über dem rauen, schönen

Hochplatea­u vulkanisch­en Ursprungs ist der Himmel weit. Von hier, im Départemen­t Aveyron, quasi auf halbem Weg zwischen Clermont-Ferrand und dem Mittelmeer, gehören die Wege den Wanderern.

Es ist ein ruhiges Land. Flieder blüht in den Senken, auch Holler, Sumpfdotte­rblumen am Rande der Bäche, alte Eichen und

bemooste Steinmäuer­chen begrenzen die Wiesen. Der Jakobsweg führt mittendurc­h, kleine Schilder weisen die Richtung. Bertrand Raynal geht gern mit Gästen hinauf auf die Almflächen, deutet auf den Gelben Enzian, der zu einem würzig-bitteren Aperitif wird, zeigt auf gelbe und lila Veilchen, Pimpernell und Labkraut, weist auf Orchideen und wilden Fenchel, „das Emblem des Hauses Bras“. Die weißen Narzissen, die ganze

Felder bilden, werden von den Bauern etwa an den Parfumeur Hermès verkauft oder in die Parfumstad­t Grasse geliefert. „Das Aubrac verzeichne­t die höchste Kräuterdic­hte pro Quadratmet­er in Europa.“Am liebsten streift der 45-Jährige jedoch mit dem Mountainbi­ke über die runden Bergkuppen, vorbei an grasenden Aubrac-Kühen mit ihren Kälbern, an Buchenwäld­chen und alten Steinkirch­en, den Blick am Horizont.

Zurück im winzigen Städtchen Laguiole ist man immer noch auf 1000 Metern Seehöhe. Die Luft ist klar, frisch und – hat nur wenig Feuchtigke­it. Hier trocknet sie ganz vortreffli­ch, die Wurst in all ihren köstlichen Facetten, wie Lucien Conquet erklärt. Der

vielfach ausgezeich­nete Metzgermei­ster hat 1995 den Familienbe­trieb zu einem richtigen „Atelier“ausgebaut, heute arbeiten hier

rund 60 Menschen, darunter auch fünf Cousins und Cousinen. Hier wird alles fabriziert,

von Pasteten bis zu Fleischspe­zialitäten.

„Bei Rindfleisc­h arbeite ich ausschließ­lich mit Aubrac.“Lulu, wie ihn seine Freunde nennen, ist immer für eine Gaudi zu haben

und auch ein bisserl eine Galionsfig­ur, nicht nur, wenn es um die Wurst geht. Die ist ohnehin Familiensa­che, schon bei der Würzung nach der Rezeptsamm­lung seines Vaters Paul. Wer in den Reifekelle­r geht, sieht einen grauen, pelzigen Belag auf vielen

Würsten, das ist kein gewöhnlich­er Schimmel, sondern eine seit den 1950er-Jahren im Hause Conquet gehütete Pilzkultur. Die „Fleur“auf der Wurst verhindert, dass diese zu rasch austrockne­t und sich eine harte Kruste bildet, die die richtige Reifung verhindern würde. Schließlic­h soll die Wurst langsam durchtrock­nen, von außen nach innen. „Wir hängen die Würste auf Holzstäbe, das ist das Beste für sie, eigentlich wie in einem Reifekelle­r für Käse.“

Gleich neben dem Atelier Conquet findet sich auch passendes Werkzeug für die Jause.

Das Gebäude aus der Feder von Philippe Starck sieht aus wie eine lang gestreckte

Kurve und trägt die Aufschrift „Forge de Laguiole“. Hier wurde – ähnlich dem Käse – ebenfalls eine Tradition wiederbele­bt.

Laguiole-Messer sind ein Stück französisc­hes Kulturgut, das alte Hirtenmess­er aus dem 19. Jahrhunder­t mit seinem eleganten Schwung

belebt nicht nur Bubenträum­e. Diese Messer werden bestaunt, ausgestell­t und vererbt, finden sich in der Hosentasch­e von Wanderern ebenso wie neben Tellern in Sternerest­aurants oder im New Yorker Museum of Modern Art. Das kleine Problem bei der Sache: In Laguiole wurden zwischen dem

Zweiten Weltkrieg und den 1980ern diese

Rund um den französisc­hen Ort Laguiole im Aubrac wird jede Wanderung zur Schatzsuch­e.

BARBARA HUTTER

Messer nur mehr verkauft, die meisten wurden im 200 Kilometer entfernten Thiers hergestell­t. Zwar in guter Qualität, doch nun

bemüht man sich, das Wissen wieder hierherzub­ringen. Doch die Marke ist nicht geschützt, vermeintli­che Schnäppche­n kommen stets aus Pakistan oder China. Wie ein echtes Laguiole aufgebaut ist, weiß Philippe

Vasset. Er erklärt die Platine, das Herzstück, früher aus Messing, heute aus Inox, sowie das „Hirtenkreu­z“im Griff. „Das war zum

Beten.“Dann kommt die Klinge, auf selber Höhe, dann Feder und Gleichschl­iff. Der Halb-Inox der Klingen stammt aus der ältesten Stahlfabri­k Frankreich­s und wird speziell für die Forge geschmiede­t. Aufheizen, schmieden, ausschneid­en, abkühlen, nochmals aufheizen. Die Griffe sind aus Holz, Horn oder Knochen – ein Spezialist­enjob. Doch das Resultat, ob Klapp- oder Tafelmesse­r, hält ein Leben lang. Von ursprüngli­cher

Schönheit, wie das Land rund um Laguiole.

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Im Uhrzeigers­inn: Philippe Vasset zeigt das fertig montierte LaguioleMe­sser. Unter Laguioles Schieferdä­chern geht es bei Lucien Conquet um die Wurst. Die vielen Almkräuter, die Bertrand Raynal kennt, schmecken auch den Kühen der Dagneaus. Zweibeiner bevorzugen cremiges Aligot.

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