Als ich unter ferner lief
ICHwarte auf den Startschuss. Die Eliteläufer sind schon auf der Strecke. Gestartet wird in zeitlich versetzten Startblöcken, damit sich nicht alle gegenseitig auf die Zehen steigen. Dass die Elite schon rennt, stört mich
nicht. Diese jungen Damen und Herren aus Afrika sind ohnehin in einer eigenen Liga unterwegs. Sie zählen zu den
besten der Welt und bekommen Geld für ihre Auftritte. Wenn ich laufen will,
muss ich selbst bezahlen. Dafür brauche ich mich aber auch nicht so zu beeilen.
Allzu gemütlich darf ich mir’s aber auch nicht machen. Denn nach dem
letzten gestarteten Läufer wartet eine Flotte orangefarbener Müllwagen der Magistratsabteilung (MA) 48, vulgo Müllabfuhr. Sie entsorgt nach dem offiziellen Zeitlimit nicht nur liegen gebliebene Becher und Bananenschalen, sondern auch Läufer/-innen, die über
dem Limit bleiben und damit aus der
Zeit zu fallen drohen. Davor bewahren sie die „48er“, durchaus spaßige Leute, die ihre Notdurft-Container mit Sprüchen wie „ein Pisschen Spaß muss sein“oder „Lass es krachen“bewerben.
Der herkömmlichen Berichterstattung zum Trotz behaupte ich, dass am
hinteren Ende einer Marathonveranstaltung, in diesem Kampf gegen das
Aus, mehr Spannung und Dramatik steckt als bei der Jagd um Platz 1, den einmal dieser, dann wieder jener Läufer
gewinnt. Während es bei den Topleuten um eine Zeit, etwas Geld und einen Namen in der Zeitung geht, steht für diejenigen, die beim Laufen die Stoßstange des Mistwagens in der Kniekehle haben, ihr Selbstverständnis auf dem Spiel, ihr läuferisches Sein oder Nicht-Sein quasi.
Ich gehöre weder den Top-Athleten noch den akut Ausstiegsgefährdeten an, sondern dem breiten Mittelfeld, der großen Gruppe der Mitläufer. Man nennt sie auch „die unter ferner liefen“, eine
Wendung, die mir immer schon gefallen hat. Wohl deshalb, weil sie ein gewisses Geheimnis in sich zu bergen scheint.
Warum „ferner“und wovon? Es klingt wie Laufen unter einem Vorwand, unter falscher Flagge, einem falschen Namen. Ein pisschen so, als hätte man sich zum Spaß als Ferner eingetragen, vielleicht gar als Ferner Waymann (why, man?).
Was ich dagegen sehr gut verstehe, ist der alte VW-Werbespruch „und läuft
und läuft und läuft“. Das ist vor allem zu Beginn des Rennens der Fall. Da kann man tatsächlich sagen, „es läuft“. Später
passt dann eher ein „geht so“. Aber davor: Tausende Menschen sind gleichzeitig in Bewegung, ebenso viele Köpfe, doppelt so viele Beine und vier Mal so
viele Arme und Beine. Man fühlt sich erinnert an einen riesigen Organismus, eine gigantische Laufmaschine. Zumindest eine Laufmasche. Aber das ist letztlich eine Frage der Betrachtung. Wie ja ohnehin eigentlich alles.