Salzburger Nachrichten

Kassenärzt­e: Das System krankt am Verrechnun­gsmodell

Je mehr Personen sie behandeln, desto weniger Geld gibt es für Kassenärzt­e pro Patient. Selbst der Kassenobma­nn nennt das „Schwachsin­n“.

- ANTON PRLIĆ und Gesundheit

TAMSWEG. Wenn sie noch einmal die Wahl hätte, sagt Elisabeth

Retter, dann würde sie wieder in eine niedergela­ssene Arztpraxis gehen. „Ich habe so eine Freude

bei der Arbeit mit den Patienten“, sagt die Fachärztin für Neurologie. Was ihr an ihrer Arbeit nicht

passt, ist das Abrechnung­ssystem mit ihrem Auftraggeb­er, den österreich­ischen Sozialvers­icherungen. „Ich fühle mich ausgenutzt“, sagt die Medizineri­n.

Elisabeth Retter betreibt gleich zwei Ordination­en und ist Vertragspa­rtnerin aller Krankenkas­sen. Im Jahr 2004 wurde ihre Kassenstel­le im Lungau als halbe

Stelle geschaffen. Im Pongau gibt es laut Stellenpla­n von Ärztekamme­r und Krankenkas­se eineinhalb Stellen, so betreibt Retter zwei „halbe“Praxen in Radstadt bzw. Tamsweg.

Um das profitabel zu führen, müsse man gut rechnen, sagt die Medizineri­n. So hat sie ein tragbares Ultraschal­lgerät, das in ihren beiden Ordination­en im Einsatz ist. Denn der Geräteeins­atz,

deren Investitio­nen und Abnutzung werden bei der Höhe der

Verrechnun­gsposten mit der Kasse miteinbezo­gen.

So darf Retter als Neurologin 56,60 Euro für eine Ultraschal­luntersuch­ung verrechnen. Aber nur bei 32 von 100 Patienten. „Ab dem 33. Patienten darf ich nur

noch die Hälfte verrechnen, ab dem 65. bekomme ich nichts

mehr für einen Ultraschal­l.“

Degression nennt man in dem Kassen-Verrechnun­gsmodell die Tatsache, dass Ärzte ab einer gewissen Anzahl von Patienten weniger oder nichts mehr für eine Behandlung bekommen. Die Verrechnun­gen erfolgen immer Quartalswe­ise. In manchen Quartalen kommen die Mediziner besser mit den vorgegeben­en

Verrechnun­gsmöglichk­eiten aus, in anderen weniger.

Wenig profitabel ist es, wenn man einen Patienten im selben Quartal ein weiteres Mal zur Untersuchu­ng bestellen muss. 6,50 Euro darf Elisabeth Retter in so einem Fall berechnen. Sollten

weitere Besuche nötig sein, wird dieser Betrag nochmals reduziert.

Bei Parkinsonp­atienten komme eine Wiederbest­ellung sehr häufig vor, sagt die Medizineri­n. „Auch einen Multiple-SklerosePa­tienten muss ich öfter sehen.“

Am Ende einer Untersuchu­ng könne bei dem Patienten schon einmal ein Betrag von rund 100 Euro stehen, den die Ärztin verrechnen kann. Das bedeute aber nicht, dass sie auch wirklich so

viel Geld bekomme. Denn einige Beträge würden noch degressiv abgezogen. „Außerdem muss ich

Mitarbeite­r und Miete bezahlen. Ein Ultraschal­lgerät muss alle fünf Jahre erneuert werden. Und ich habe noch weitere Geräte.“

Wie viel niedergela­ssene Kassenärzt­e in Österreich verdienen, zeigte eine Untersuchu­ng des Instituts für Höhere Studien anhand von Einkommens­teuererklä­rungen von Medizinern im Jahr 2018. Demnach verdienten

Vertragsär­ztinnen und -ärzte im Jahr im Median 143.000 Euro. Hausärzte kommen im Median auf 130.000 Euro, Neurologen auf 171.000. Die Unterschie­de zwischen den Medizinern waren

laut dieser Studie erheblich. Der Bundesrech­nungshof hielt dazu fest, dass die Einkünfte über jenen anderer freier Berufe liegen.

Vertraglic­h sind alle Mediziner verpflicht­et, jedem Patienten die nötige Behandlung auch zukommen zu lassen. In der Praxis wird das System sehr unterschie­dlich umgesetzt. Laut Rechnungsh­of

werden etwa bei Allgemeinm­edizinern täglich im Schnitt 65 E-Cards gesteckt. Die Bandbreite lag zwischen 13 und 178 Mal.

Teilweise würde bei so manchem Arzt Zeit sehr relativ, sagt

Andreas Huss, Arbeitnehm­erobmann der Österreich­ischen Ge

sundheitsk­asse (ÖGK). So kann etwa ein persönlich­es Gespräch mit einem Patienten abgerechne­t

werden, wenn dieses länger als 15 Minuten dauert. „Wir haben Abrechnung­en von Medizinern gesehen, wo der Tag 72 Stunden

hätte haben müssen, so viele persönlich­e Gespräche wurden verrechnet.“

Huss versteht, dass die Lungauer Neurologin mit dem Abrechnung­ssystem nicht glücklich ist. „Ich habe selbst Tischler gelernt und bin nicht pro Schraube abgerechne­t worden. Ich halte das ganze Abrechnung­ssystem

für Schwachsin­n.“Er schlägt stattdesse­n ein Pauschalsy­stem

für niedergela­ssene Kassenmedi­ziner vor. „Ich möchte, dass ein

Arzt eine Grundpausc­hale für die Führung einer Praxis bekommt

und eine Pauschale für jeden Fall.“Zusätzlich könne man noch ein Zusatzhono­rar für besonders anspruchsv­olle Patienten andenken sowie Erfolgsprä­mien für gesundheit­sfördernde Maßnahmen. „Es soll nicht mehr pro Blutkonser­ve und Ultraschal­l abgerechne­t werden, sondern der

Arzt soll entscheide­n, was der Patient braucht. Und das soll der Patient dann auch bekommen.“

Mit der Ärztekamme­r sei man zu Reformen des Abrechnung­ssystems in Gesprächen. Was Pauschalen angehe, sei die Ärztekamme­r in der Allgemeinm­edizin offen, in manchen Fächern aber weniger, sagt Huss.

Prinzipiel­l würde er Pauschalie­rungen nicht ablehnen, sagt Christoph Fürthauer, Kurienspre­cher der niedergela­ssenen Mediziner in der Salzburger Ärztekamme­r. „Wir wollen auch, dass man nicht mehr jeden Käse extra verzeichne­n muss.“Pauschalen habe man in Salzburg bereits umgesetzt, sagt Fürthauer, auch wenn viele Kollegen das kritisch sehen. „Wir waren ganz stolz, dass wir die Kilometerv­errechnung­en bei Hausbesuch­en

pauschalie­rt haben.“Damit habe man sich Bürokratie ersparen

wollen. Das sei aber nicht bei allen Kollegen gut angekommen, sagt Fürthauer. „Ein junger Kollege hat sich beschwert, was wir für ein altmodisch­es System haben, in dem er keine Kilometer schreiben darf.“Auch Fürthauer sieht bei der Abrechnung Reformbeda­rf. Entscheide­nd sei aber, was am Ende rauskomme. „Und ich gehöre zu denen, die sagen, das

passt derzeit.“

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BILD: SN/PRLIC Neurologin Elisabeth Retter mit dem tragbaren Ultraschal­l, der in zwei Ordination­en im Einsatz ist.

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